Abschied

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Der Tod der anderen.

Das Leben, hat Jean Améry gesagt, sei der Bau eines Hauses, das pünktlich zum Richtfest abgerissen würde. Jean Améry hat mit diesem Satz ein Bild geschaffen, das eindeutig und gleichzeitig mehrschichtig ist. Eindeutig, weil das Leben in letzter Konsequenz ein vergebliches Projekt ist, da der Tod unausweichlich ist. Mehrschichtig, weil ein Rohbau, je nach Perspektive, sein Gesicht verändern kann.

Améry spricht aus der Perspektive eines Menschen, der nach seiner Folter durch die SS nie wieder ins Leben zurückfand. Für den das Leben ein Kampf war. Ein bewusster Kampf gegen den immer anwesenden Tod. Ein ständiger Kampf gegen Bilder des Verbrechens, des Grauens, des Todes. Das, was für die meisten Menschen eine Ausnahmesituation bleibt – die bewusst gelebte Konfrontation mit dem Tod –, war für ihn Alltag.

Heute, an Allerheiligen, ist auch der Tod für uns, die mitten im Leben stehen, ein Stückchen näher. Vielleicht nicht unser eigener, aber so doch der Tod anderer. Wir stehen an den Gräbern unserer Verstorbenen und denken an sie. Wir suchen und finden Trost – in der Kirche, im Familienkreis, bei langen Spaziergängen, mit einer Flasche Whiskey oder eben in einem Satz wie dem von Jean Améry. Denn ein Haus im Rohbau ist immerhin ein Haus im Rohbau. Für den Verstorbenen wird es zwar niemals bewohnbar werden, doch ist es eine Hinterlassenschaft, auf die Hinterbliebene aufbauen können. Einige Fundamente, die bleiben. Je stabiler, desto wirkungsvoller.

Liest man den Satz von Jean Améry aus der Perspektive eines Angehörigen, dann ist er tröstend. Denn der Rohbau bleibt. Wir tragen Erinnerungen – Gerüche, Gefühle, Erlebnisse, ein Lachen – in uns, die uns immer an unsere Verstorbenen erinnern werden. Und die uns prägen, für unser eigenes Leben. Der Satz kann demnach auch als ein Appell gelesen werden, ein Appell daran, im Leben Verantwortung zu übernehmen, unseren Kindern einen Rohbau zu hinterlassen, an dem sie weiterbauen können.

Doch möchte man den Satz von Jean Améry wirklich ernst nehmen, dann muss dessen Interpretation weiter gehen. Sie muss den Zirkel des Familiären verlassen und den Begriff der Verantwortung weiter denken.

An Allerheiligen, an einem Tag, an dem der Verlustschmerz spürbar nahe an uns heranrückt, sind wir empfänglicher für Gefühle wie Empathie. Für das Leid anderer. Für den Wunsch nach mehr Menschlichkeit.

Das Mittelmeer ist ein Massengrab. Auf seinem Grund liegen Tausende Tote. Ihre Geschichten tragen Menschen in sich, die nicht selten wenige Kilometer von unseren warmen Häusern entfernt versuchen, mit den Verlusten weiterzuleben. Den sie ständig verfolgenden Bildern des Verbrechens, des Grauens, des Todes zu entkommen und sich ein neues Leben aufzubauen. Ihr einziger Rohbau ist die Erinnerung. Und vielleicht noch ein bisschen Hoffnung.

Am 17. Oktober 1978 nahm sich Jean Améry in einem Hotel in Salzburg mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. Der Kampf gegen den Tod war für ihn unerträglich geworden. Die Bilder des Verbrechens, des Grauens, des Todes mussten ausgelöscht werden.

jstroetgen@tageblatt.lu