Abgrund oder Neugeburt

Abgrund oder Neugeburt

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Die Krise, in der sich Europa befindet, ist begrifflich kaum zu fassen und geht über die der Staatsschulden hinaus.

Hinter der wirtschaftlichen und finanziellen Krise tritt eine Krise ganz anderer Art hervor, über die wenig geredet wird, welche allerdings die Erstere nur verschlimmert und eine Lösung erschwert: die Krise des europäischen Projektes.

Sascha Bremer sbremer@tageblatt.lu

Zur wirtschaftlich-finanziellen Krise bleibt zu bemerken, dass allen peripheren Ländern Europas zwei Tatsachen gemein sind, welche am Ursprung der Probleme stehen.

Zum einen die, dass die bestehende Architektur des Euro als Brandbeschleuniger und eben nicht als Schutz für die Krisenländer funktioniert hat. Erst durch die Erschaffung des Euro konnten die wirtschaftlich schwächeren peripheren Länder Europas an billige Kredite geraten. Die Geldgeber und so mancher Politiker verkannten – bewusst oder unbewusst –, dass der Euro niedrige Zinssätze nicht rechtfertigte. Damit gelangte eine bis dahin nie gekannte Masse an Kapital in diese Länder, wovon ein großer Teil für Importwaren aufgewendet wurden. Die Handelsbilanz dieser Länder verschlechterte sich, im Gegenzug profitierte davon allen voran Deutschland. Lange auch die Banken.

Der benachbarte Wirtschaftsgigant mag sicherlich auch vom Boom der Schwellenländer profitiert haben – der Hauptmarkt für seine Exporte war in den vergangenen Dekaden allerdings Europa.

Die nicht mehr zu haltenden Ungleichgewichte traten erst allmählich nach der Lehman-Pleite zutage. Zuerst gerieten Europas Banken in den Strudel, danach mussten die Staaten zu ihrer Rettung einspringen. Länder wie Irland, Spanien, Portugal, die zuvor nach den geltenden Kriterien seriös gehaushaltet hatten – Griechenland ausgenommen –, kamen ins Schlingern. Sicher, der Euro als Währung war bis jetzt nicht in der Krise. Erste Anzeichen, dass dies nun anders werden könnte, zeigen die Kursverluste gegenüber dem Dollar in den letzten Tagen.

Zum anderen war es allerdings nicht nur das billige Geld, sondern auch der falsche Diskurs vom faulen Steuerverweigerer aus Südeuropa – der in den oben genannten Ländern seit Jahrzehnten sehr gut von den Sozialsystemen lebte –, der denn auch die respektiven Staatshaushalte in Schieflage bringen würde. Erst dieser Diskurs ermöglichte die Verabreichung einer Medizin, welche die Abwärtsspirale beschleunigte: Merkels Spardogma.

Leider wurden dadurch auch Ressentiments auf dem Kontinent geschürt: im Norden gegenüber dem „faulen Südeuropäer“, im Süden gegenüber einem hegemonistischen Deutschland. Die Konsequenzen allein dieses Auseinanderdriftens der europäischen Gesellschaft sind noch nicht abzusehen. Jetzt, da die wirtschaftlichen Probleme auch auf den Kern Europas überspringen, rückt Deutschland nun endlich vom Spardogma ab. Angela Merkel verkündete vor einigen Tagen, dass die Lösung in einer Vertiefung der europäischen Integration besteht, Wachstumsimpulse inbegriffen. Doch wie weit will Deutschland gehen? Alles auf die lange Bank schieben, wie bis jetzt, wird nicht mehr lange funktionieren können.

Nur das Notwendige

Noch ist es nicht zu spät, ein Scheitern des Euro zu verhindern. Jedoch stellt sich die Frage, was von der ursprünglichen Idee und der mit ihr einhergehenden Narration über Europa als Friedens- und Prosperitätsprojekt gleicher Partner übrig bleiben wird. Sogar der mehr als umstrittene Großspekulant George Soros warnte am Samstag in einer in Italien gehaltenen Rede davor, dass „ein deutsches Imperium in der Mitte Europas mit der Peripherie als Hinterland“ entstehen könne. Deutschland würde wohl aus Eigeninteresse das Notwendige tun, um den Euro zu retten – mehr allerdings nicht.

Bislang darf man daran zweifeln, dass Angela Merkel dazu fähig ist, eine Politik zu denken, zu formulieren und umzusetzen, die über ein bloßes Verwalten hinausgeht. Auf die Frage, ob das europäische Projekt vor dem Abgrund oder einer Neugeburt steht, heißt Merkels Antwort immer noch „oder“.