10. Dezember 2025 - 6.45 Uhr
SachbuchZerstörungslust als Kern des demokratischen Faschismus
Alles hat sich verschlechtert. Das findet Manfred Gruber, wenn er auf sein bisheriges Leben zurückblickt. Wenn er als Kind mit seinen Eltern und den vier Geschwistern am Küchentisch saß, habe es zwar auch mal Streit gegeben, erinnert sich der 57-Jährige aus Südwestdeutschland. Aber im Großen und Ganzen sei man zufrieden gewesen. Gruber schloss 1983 eine Lehre zum Maschinenschlosser in einem großen Stahlunternehmen ab. Er war Gewerkschaftsmitglied, wählte einmal die SPD und sonst aus christlich-konservativer Familientradition die CDU. Die Belegschaft der Firma schrumpfte mit der Zeit von 40.000 auf 6.000 Beschäftigte. Gruber arbeitete lange auf Montage im Ausland, dann bei einem Zulieferbetrieb für die Elektroindustrie. Später wechselte er in den Sozialbereich und betreute Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen. Zusammen mit seiner Frau hat er sich lange beim Roten Kreuz engagiert. Bis beide krank wurden und selbst in Not gerieten. Die Berufsgenossenschaft erklärte sich für nicht zuständig, die Krankenkasse zahlte nicht. Gruber fühlt sich verraten. Er kann seinen Lebensstandard nicht mehr leisten, während Geflüchtete Unterstützung beziehen und „Araber-Clans Ferrari fahren“. Heute wählt er AfD.
Manfred Gruber ist eines der Fallbeispiele, von denen Carolin Amlinger, Literatursoziologin an der Universität Basel, und Oliver Nachtwey, Professor für Sozialstrukturanalyse an derselben Uni, in „Zerstörungslust“ erzählen. Sie haben in Deutschland eine Umfrage mit knapp 2.600 Teilnehmern durchgeführt. Dabei stellte sich heraus, dass 12,5 Prozent der Befragten mittel bis hoch destruktiv waren. Mit 41 Personen haben sie ausführliche Gespräche geführt – Menschen wie Manfred Gruber. Sie finden, „dass sehr viel verkehrt läuft in unserem Land“ und dass man sich nur durch einen radikalen Bruch davon befreien könne, notfalls mit Gewalt. Sie denken in Nullsummen und sehen sich als Verlierer. Sie wollen radikale Lösungen.
Das Autorenduo analysiert die Abkehr von der liberalen Demokratie hin zu einem „demokratischen Faschismus“ und untersucht dessen Antriebskräfte. Die beiden Soziologen sind durch ihr 2022 erschienenes Buch „Gekränkte Freiheit“ bekannt geworden, in dem es um den „libertären Autoritarismus“ geht. Mit libertärem Denken verbindet man Leute wie den Tech-Milliardär Elon Musk oder Argentiniens Präsident Javier Milei, den Mann mit der Kettensäge, die symbolisch für die Zerstörungslust steht. Weiter als das Label „libertärer Autoritarismus“ geht der „demokratische Faschismus“, dem sie in ihrem neuen Werk auf den Grund gehen. Damit gemeint sind rechte Regierungen, die liberale Errungenschaften, unabhängige Justiz und freie Medien einschränken oder einschränken wollen.
Faschistische Fantasien
Der Begriff „Faschismus“ wird oft mit dem Nationalsozialismus des Dritten Reichs oder mit dem italienischen Faschismus in Verbindung gebracht. Der Nachfolger des „alten“ Faschismus ist „weniger organisiert und zentralisiert als sein Vorläufer in der Zwischenkriegszeit“, wie Amlinger und Nachtwey schreiben, er verstehe sich als Erneuerer der Demokratie. Bereits der Philosoph Theodor W. Adorno stellte in seinen Studien zum autoritären Charakter 1967 fest: „Das offen Antidemokratische fällt weg, im Gegenteil: Man beruft sich auf die wahre Demokratie und schilt die anderen antidemokratisch.“ Dies gilt auch für Politiker wie Donald Trump, Giorgia Meloni, Marine Le Pen, Viktor Orbán, Alice Weidel oder Geert Wilders.
Amlinger und Nachtwey versuchen herauszufinden, warum autokratische Denkmuster zurzeit wieder so viel Zuspruch finden. Neben Adorno zitieren sie Erich Fromm, einen weiteren Vertreter der Frankfurter Schule, der in „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ (1973) behauptet, dass der „Grad der Destruktivität mit der fortschreitenden Entwicklung der Zivilisation wächst und nicht umgekehrt“. Für die Gegenwart diagnostizieren sie eine „Lust an der Zerstörung“ als einen Versuch, die Demokratie aus den Angeln zu heben. Es handle sich dabei um eine Revolte zumindest verunsicherter und teils wirklich deklassierter Menschen, die sich gegen das kollektive Gefühl von Verlust, Ohnmacht und eines blockierten Lebens richte, für das sie die moderne liberale Gesellschaft verantwortlich machen. Nachdem einige Jahrzehnte lang Fortschritt und Emanzipation garantiert erschienen, können diese Versprechen in der Zeit der Polykrise aus Krieg, Klimawandel, Pandemie und Inflation nicht mehr eingelöst werden. „Der Demokratie scheint die Zukunft abhanden gekommen zu sein“, schreiben die Autoren. Zunehmend breiten sich illiberale Demokratien aus – „Staaten, in denen es zwar formal freie Wahlen gibt, die aber liberale Kernbestände wie Gewaltenteilung, unabhängige Justiz und freie Medien zurückbauen“.
Die Autoren sprechen von einem „rechtsdriftenden politischen Zyklus“, in dem sich Nationalkonservative, libertär Autoritäre und Anarchokapitalisten zusammenschließen und die liberalen Institutionen ins Visier nehmen. Dabei reißen sie jedoch die Macht nicht mit Gewalt an sich, sondern werden demokratisch gewählt. Derweil verachten viele Bürger inzwischen die liberale Demokratie, haben autoritäre Mentalitäten entwickelt und zeigen sich offen für faschistische Fantasien. Sie wollen die liberale Demokratie im Namen des Besitzindividualismus abwickeln und projizieren Probleme auf Migranten oder soziale Minderheiten.
Aggressive Nostalgie
Anfällig für die neue Form dieses „demokratischen Faschismus“ sind vor allem „vom Abstieg bedrohte und radikalisierte Mittelklassen“ und „Arbeiter, deren Lebensbedingungen seit Jahrzehnten stagnieren“ und die die Hoffnung auf eine Besserung aufgegeben haben – vor allem jene, die zuvor an die Moderne und an den sozialen Aufstieg geglaubt haben. In einer aggressiven Nostalgie für eine Gesellschaft, in der vermeintlich alles „noch in Ordnung“ gewesen sei, stellen sie sich gegen jede Einschränkung, die zum Beispiel der Klimawandel erforderlich gemacht hat oder die etwa während der Pandemie notwendig wurde, als der Liberalismus zum Teil selbst autoritär wurde, indem er „an das moderne Individuum hohe Anforderungen der richtigen Lebensführung, oft in moralisierender Form“, stellte. Anders als vor der Zeit des klassischen Faschismus herrscht keine Massenarbeitslosigkeit. Als Gründe für den Aufstieg des Rechtsextremismus werden häufig die Migration und die Globalisierung, die gestiegene Ungleichheit und der Kulturkampf um eine inklusive Geschlechterpolitik genannt. Zur Erklärung reichen sie aber nicht aus. Vielmehr ist es, und hier bedarf es wieder einer Anleihe bei Erich Fromm, die paradoxe Grundstruktur der modernen Individualität: Statt sich frei zu fühlen, schreibt der Sozialpsychologe in „Die Furcht vor der Freiheit“ (1941), fühlten sich die Individuen durch äußere Zwänge und Hindernisse blockiert. „Das Bedürfnis, seine Wünsche zu verwirklichen, schlägt in sein Gegenteil um“, so Amlinger und Nachtwey, „den Wunsch, die Welt zu zerstören, die einem die Luft zum Atmen nimmt“.

Die Demokratie radikal umzukrempeln, indem ihre Institutionen angegriffen werden, versuchten die Anhänger von Trump im Januar 2021 beim Sturm auf das Kapitol in Washington D.C. und fand Eingang in das drei Jahre später von Kevin Roberts, Präsident der US-amerikanischen Heritage Foundation und Hauptarchitekt des „Project 2025“, publizierte Bekenntnis „Dawn’s Early Light“. Der ursprüngliche Untertitel hieß „Burning Down Washington to Save America“, das Cover zeigte ein Streichholz. Der Subtitel wurde in „Taking Back Washington to Save America“ umgeändert und das Streichholz verschwand vom Cover. Die Botschaft blieb: „Damit Amerika wieder aufblühen kann, dürfen sie nicht reformiert werden; sie müssen verbrannt werden.“ Das Vorwort schrieb übrigens JD Vance, heute US-Vizepräsident. Umsturzfantasien nehmen ebenso zu wie die politische Gewalt, etwa bei Attacken auf Politiker und Wahlkampfhelfer oder bei den Unruhen 2024 in Großbritannien. Diese Zerstörungslust mache den Kern des demokratischen Faschismus aus, der nicht so einheitlich wie der historische Faschismus ist, weniger organisiert und zentralisiert als seine historischen Vorläufer. Er sei „hochgradig polymorph“, eine lose Allianz der Destruktion.
Der Demokratie scheint die Zukunft abhanden gekommen zu sein
Das Buch
Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Zerstörungslust. Elemente des demokratischen Faschismus. Suhrkamp, Berlin 2025. 453 Seiten. 30 Euro.
Im letzten Kapitel „Ein neuer Antifaschismus“ fordern sie einen solchen, weisen aber darauf hin, dass ein nüchterner Faktencheck ebenso wenig genügt wie Unterricht in Demokratie, um dem rechtspopulistischen und rechtsextremen Vormarsch entgegenzutreten. Um ihn besser zu bekämpfen, müsse man ihn effektiver analysieren. Die Wissenschaft müsse die Waffe gegen die faschistische Mentalität sein. Ob das ausreicht? Eine echte Lösung haben die Autoren nicht. Doch ihre in einem essayistisch eingängigen und flüssigen Stil geschriebene Zeitdiagnose, die phasenweise wie der Rohbau einer Art von Theoriecollage wirkt, bietet zumindest Ansätze – und lässt einen nicht ganz hoffnungslos zurück. Obwohl in ihrer Befragung Aussagen vorkamen wie „Ich möchte die Gesellschaft in Schutt und Asche legen“, weisen mehr als die Hälfte der Befragten keine Neigung zur Destruktivität auf.
De Maart

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