Die Bühne gleicht einer Baustelle: Malutensilien, Gerüste und Abdeckfolie geben den Anschein eines unvollendeten Bühnenbilds, was schließlich doch recht gut zu den angeblich unvorbereiteten Schauspielern passt. Scheinbar überrascht, dass überhaupt Zuschauer und Zuschauerinnen im Theatersaal Platz gefunden haben (immerhin bleiben die Kulturinstitutionen in Deutschland, also auch das Staatstheater Mainz, in dem dieses Stück entstanden ist, weiterhin geschlossen), versuchen Lisa Eder, Julian von Hansemann und Denis Larisch sich der geplanten Aufführung von Goethes „Werther“ anzunähern.
Während die verschiedenen Rollen zu Beginn der Aufführung noch keine feste Besetzung haben und die Schauspieler darüber diskutieren, wie welche Szene umgesetzt und wer welche Rolle übernehmen soll, gewinnt die Handlung des Stücks langsam an Fahrt und an Kontur.
Das Stück bleibt Goethes Original in seiner Handlung weitgehend treu: Werther (Julian von Hansemann) und Lotte (Lisa Eder), deren Verlobter Albert (Denis Larisch) auf Geschäftsreise ist, lernen sich auf einem Tanzball kennen und entwickeln ein inniges Verhältnis zueinander. Nach Alberts Rückkehr sieht Werther sich allerdings gezwungen, an den Hof des Grafen zu ziehen, da er es nicht erträgt, Lotte in der Gegenwart Alberts zu wissen.
Trotzdem kehrt er wieder zu dem mittlerweile verheirateten Paar zurück, in der Hoffnung, Lotte doch noch für sich gewinnen zu können. Doch vergebens, denn diese hält an der, für Werther unakzeptablen, Ehe fest. Die Erkenntnis, dass Lotte sich niemals vollkommen für Werther entscheiden wird, denn „in der Welt ist’s sehr selten mit dem Entweder Oder getan“, und sie nicht alleinig seine unabdingbare Liebe erwidert, stürzt auch den Werther der Moderne in den Tod, wobei die Todesszene hier noch mal eine ganz andere Dimension des Tragischen erhält.
Folglich sieht man Werther gegen Ende des Stücks, etwas melodramatisch und andauernd, wie er über Monate hinweg allein in seiner Wohnung, seinen Gedanken, die wie besessen um Lotte kreisen, nicht mehr standhalten kann. Diese krankhafte Liebe wird durch Bilder und Videos von Lotte, die sich auf mehreren Projektionsflächen auf der Bühne abspielen, nochmals um einiges verstärkt. Julian von Hansemann verleiht seiner Rolle vor allem an dieser Stelle eine enorme Ausdruckskraft und lässt Werthers Freiheitsdrang und Wunsch nach endgültiger Erlösung bis nach außen vordringen.
Sturm und Drang trifft Moderne
Die Sprache schwankt während des gesamten Stücks ständig zwischen Originalphrasen aus Goethes Werk und moderner Gegenwartssprache. Überhaupt wird hier sowohl mit aktualitätsbezogenen Merkmalen als auch mit Themen des Sturm und Drang gespielt. Eine feministische Debatte, in der Lotte sich als reine Projektionsfläche von Werthers Gefühlen erklärt und eigentlich gerne einmal selbst zu Wort kommen würde, verleiht dem Stück eine emanzipatorische Note.
Werthers und Alberts Diskussionen über Freitod, Leidenschaft und Freiheit, die trotzdem auch heute immer noch aktuell sind, heben Werther ganz als Stürmer und Dränger und als empfindsamen Rebellen gegen die Verhältnisse seiner Zeit hervor. Und selbst die heutigen Corona-bedingten Hygienemaßnahmen haben ihren Weg in Bartkowiaks Inszenierung gefunden, sodass sogar Wilhelm, der ursprüngliche Adressat von Werthers Briefen, sich in Quarantäne befindet, und das Publikum dessen Platz einnehmen muss.
Anhand von eingefügten Popsongs und Filmeinspielungen gelingt Motzki und Bartkowiak ein durchaus lebendiges und neuartiges Werther-Stück, in dem der schwärmerischen Beziehung zwischen Werther und Lotte eine jugendliche Frische verleiht wird. Und wer hätte schon gedacht, dass Lotte und Werther irgendwann einmal Elton Johns und Kiki Dees „Don’t Go Breaking My Heart“ zusammen in einer Karaoke-Version singen würden …
De Maart
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