Von der Vergänglichkeit

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Dan Kolber ist seit Ende August als Austauschschüler für zehn Monate von Gosseldingen nach Blackfoot, Idaho, gereist. Von dort schreibt er jeden zweiten Samstag im Tageblatt über seine Erlebnisse. So langsam nähert sich sein Austauschjahr dem Ende. Er beginnt, sich Gedanken zum Abschied zu machen. Heute schreibt er über die Vergänglichkeit vom Leben eines Austauschschülers.

Dan Kolber
 
Mein Jahr hier in Amerika neigt sich langsam aber sicher, seinem Ende zu. Die Tage werden wieder länger, die Nächte kurz, der Sommer bahnt sich langsam an und somit auch die Jahreszeit, in welcher alles begann und in welcher es enden wird, mein Austauschjahr. Ist also jetzt Zeit für nostalgische Rückblenden und tränenvolle Blicke hin zum baldigen Moment des Abschieds? Ist jemals Zeit dafür?
Klar. Der Augenblick der schmerzhaften Trennung, das war schon bekannt, bevor ich in den Flieger nach Amerika stieg, wird kommen. Damals waren es noch zehn Monate. Jetzt ist gerade mal ein Monat übrig geblieben, und der vage, unklare Gedanke an die Heimkehr drängt sich, während die Tage so verstreichen, immer stärker auf.
Wohin trieb mich dieses Jahr? Was werde ich mitnehmen, was werde ich für immer hier lassen, frage ich mich dabei. Was genau steckt hinter diesen zehn immer noch unfassbar rauschartigen Monaten? Es ist mir unmöglich, mich diesen Fragen jetzt zu stellen. Es ist als stecke ich noch zu tief drin; ich bin noch zu eng mit meinem Austauschjahr verstrickt als dass ich irgendwelche Schlüsse ziehen könnte. Da ist kein Raum für distanzierte Kontemplation, kein Moment der Loslösung, es ist ein Zustand intensivster Verstrickung in die räumliche und soziale Begebenheit, die mich einfach noch nicht loslassen kann.

Kein Zurück

Der Moment des Erwachens aus diesem traumartigen Erlebnis wird in Luxemburg stattfinden, nicht hier. Am ersten frischen Sommermorgen in Luxemburg, so stelle ich mir das vor, die Augen langsam öffnend, zögernd um mich blickend, das eigene, altbekannte Zimmer wieder erkennend, dann werde ich einmal tief ein- und ausatmen, und alles wird in mich hinein sinken:
Erinnerungen, hunderte von Momenten, Gesichter, Stimmen, Gerüche, kurz, zehn Monate, die plötzlich auf mich niederprasseln werden, und dann die Erkenntnis, dass ich all diese Dinge nun hinter mir gelassen habe, es vorüber ist, schlussendlich. Kein Zurück. Alles dreht bzw. drehte sich ja um diesen einen Punkt, alles, was in diesen Monaten passierte, läuft auf diesen einen Moment hinaus, den Augenblick, in dem ich Blackfoot den Rücken kehren werde. Der Gedanke an den Tag der Rückkehr war oder ist immer irgendwie präsent gewesen, aber stets als noch unklare nebulöse Zukunftserscheinung. Als Ankerpunkt für mein Umhertreiben hier in den USA gab es immer die Gewissheit, dass ich in absehbarer Zeit wieder zurück nach Luxemburg kehren würde, und dennoch war ich mir dieses Ankers nie vollkommen bewusst.
Er war da, doch jetzt wo ich ihn langsam einholen soll, realisiere ich erst, wie echt er ist und wie schwer er wiegt. Jetzt kann ich ihn langsam mit meinen Händen fassen, und es ist ein zwiespältiges Gefühl der Erleichterung und der Angst. Angst vor dem Augenblick, da dieser Teil meines Leben von mir abgetrennt wird, für immer.
Ich werde ihn wohl immer mit mir herumtragen, jedoch als verblassende Erinnerung, die nicht mehr wachsen kann, die zwar noch Schönheit ausstrahlt, aber nicht mehr von neuem blühen kann. Die Vergänglichkeit einer Rose, die Vergänglichkeit allen Seins, hier empfinde ich sie auf eine mir neue fatale Weise. Denn jetzt umfasst sie mehr als nur ein paar Blütenblätter, eine ästhetisch idealisierte Form, es ist staubtrockene Wirklichkeit.

Die Sanduhr läuft

Es sind unzählige Menschen, unzählige Plätze, unzählige Momente, die ich vollkommen hinter mir lassen muss. Natürlich kann ich irgendwann wieder Blackfoot besuchen, aber es wird nie mehr auch nur annähernd meiner heutigen Situation ähneln, dem Leben eines Austauschschülers in einer amerikanischen High School. So ist es halt, den Moment muss man ergreifen. Auch das erfuhr ich in intensivster Form, während meines Austauschschüler-Daseins. Du kommst hierher, und spürst wie die Sanduhr umgedreht wird. Alles, wird dir klar, musst du auskosten, denn jeder Tag der verstreicht, bringt dich dem Ende näher. Und so ist es überhaupt im Leben. Die Vergänglichkeit, die sich mir hier aufdrängte, ist eigentlich immer präsent. Sie muss einem nur bewusst werden, man muss sich mit ihr auseinander setzen, wie ein Austauschschüler: Du weißt deine Zeit ist kurz, ergreife, nutze und forme sie.