SchülerartikelTheaterrezension: „Wer bist du? – Ein Mensch“

Schülerartikel / Theaterrezension: „Wer bist du? – Ein Mensch“
Das Theaterstück „Nach Europa“ erzählt den Leidensweg von zwei Flüchtlingen, die sich auf den Weg nach Europa machen  Symbolfoto: AFP

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

Im Rahmen einer Serie zum internationalen Tag der Pressefreiheit (3. Mai) haben Schüler im Tageblatt das Wort. Heute beschäftigen sich die Autorinnen aus dem „Athénée de Luxembourg“ mit einer Theaterrezension

Ein Bühnenbild, das aus nicht viel mehr als einem spärlichen Holzboot besteht: Dass es nicht viel braucht, um eine gelungene Theatervorstellung zu geben, beweist das Theaterstück „Nach Europa“. Im Mittelpunkt des Werkes der beiden deutschen Schauspieler und Produzenten Lukas Ullrich und Till Florian Beyerbach stehen zwei Flüchtlinge, die auf ihrem Weg nach Europa sind. Am 7. Februar ließen sich im „Centre Atert“ in Bartringen Schulklassen aus gleich mehreren Gymnasien von der Vorstellung beeindrucken.

Dampf und Nebel, der leicht künstliche, erdrückende Geruch, der in der Luft liegt, und harte Worte lassen den Zuschauer erst einmal auf Distanz gehen. Doch auch wenn das Stück in verschiedenen Momenten unrealistisch und absurd erscheinen mag, umso realitätsnäher ist die Handlung auf den zweiten Blick: „Nach Europa“ handelt von zwei Männern auf der Flucht, die nach dem Kentern ihres Schiffes auf ein kleines, brüchiges Beiboot fliehen und versuchen, sich von dort aus, gegeneinander und miteinander, ihren Weg nach Europa zu bahnen. Man könnte meinen, die gegebene Notsituation würde in beiden Männern einen Überlebensinstinkt auslösen und beide würden sich verbünden, um zusammen gegen die schwindende Menschlichkeit ihres Umfeldes und die wilden Wellen der Tiefsee ankämpfen. Doch weit gefehlt: Die zwei Flüchtlinge setzen sich zunächst einmal gegenseitig herab, ihre unterschiedliche Herkunft und Religion anprangernd.

Verlängerter Leidensweg

Der eine ist ein Christ, der vor Terror und Tod geflohen ist, der andere Moslem und ein Täter, der für genau solchen Terror verantwortlich ist: Beide versuchen sich gegenseitig herunterzumachen und es wird klar, dass die Frage lautet: Wer hat es mehr verdient, Europa zu erreichen? Wer hat das Leben mehr verdient?

Doch der Kampf ums Überleben hat bereits begonnen: Ein Kreuzfahrtschiff mit dem Namen „Europa“ überlässt die beiden Flüchtlinge sich selbst, streut sogar Salz in ihre Wunden, indem es ihnen Essensüberreste nachwirft und dadurch den Leidensweg der Notdürftigen nur noch verlängert. Hass und Überlebenswille, Hilflosigkeit und Feindseligkeit treffen aufeinander und so wird Christ und Moslem deutlich, dass sie die Präsenz des anderen brauchen, um sich gegenseitig in ihrer Illusion, die den Namen Europa trägt, zu bestärken. Um zu überleben, muss ihr Glaube an das „Paradies“, an diesen glorreichen Kontinent, aufrechterhalten bleiben. Dann beten die beiden Männer doch zusammen: Sie sind zu dem Schluss gekommen, dass Gott nicht ortsgebunden ist.

Durch eine faszinierende Lasershow, moderne, zielgenau eingesetzte Licht- und Schattenspiele und ein originelles akustisches Schauspiel spricht „Nach Europa“ jede Altersgruppe an und beeindruckt insbesondere junge Leute. Auch wenn Requisiten, Kleidung und Dekor minimalistisch gehalten sind, schaffen zahlreiche Farben, die abwechselnd in Licht oder Dunkelheit getauchten Darsteller und eine im Kern treffende, prägnante Aussage eine zugleich magische und bedrohliche Atmosphäre.

Die Situation der beiden Flüchtlinge verändert sich andauernd und so ist auch das Stück von harten Einschnitten geprägt. Dies geht wohl darauf zurück, dass das Theaterstück mehr als nur eine Inszenierung ist: Die Eindrücke, die es bei den Zuschauern hinterlässt, sind wie ein Spiegel der Gefühle der Menschen, die wirklich den Ozean überqueren, in der Hoffnung, irgendwo anzukommen, an Land und im Leben. Die abrupten Szenenwechsel lassen das sprunghafte Durcheinander erahnen, mit dem Flüchtlinge tagtäglich zu kämpfen haben: Ihre verheerende Lebenslage hat unter anderem dadurch einen so bitteren Geschmack, da sich ihre Situation ständig um 360 Grad verändert. Daher rühren also die Kanten und Kurven, die das Stück aufweist.

Zwiespältige Rolle

Aber ist Europa wirklich der Kontinent der Sicherheit, des Friedens und der Freiheit? Mit „Nach Europa“ haben sich die zwei Darsteller und Verfasser des Theaterstücks Lukas Ullrich und Till Florian Beyerbach das Ziel gesetzt, ihren Zuschauern einen Denkanstoß zu geben: Sorgt Europa dafür, dass die Werte, die der Kontinent anstrebt, auch über seine Grenzen hinaus vertreten werden? Hat unsere Konsumgesellschaft einen Preis? Wie soll Europa mit seinem Wohlstand umgehen?

Meinungs-, Religions- und Pressefreiheit, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, Toleranz und Solidarität, vor allem aber Menschenwürde: Dies sind die Werte, auf die Europa pocht. Eine stabile Demokratie soll Europäer vor jeglichen Gefahren schützen und ihnen das bestmögliche Leben erlauben. Vielen scheinen diese Vorzüge selbstverständlich, sie sind jedoch angesichts der Konflikte und Probleme in Entwicklungsländern wohl eher Luxus und Privileg.

Die Rolle Europas in der Flüchtlingspolitik ist zwiegespalten: Es stellt sich heraus, dass die Migrationskrise, die ihren Höhepunkt im Jahr 2015 hatte, noch immer eine große Herausforderung darstellt, die viele Länder versuchen, auf humane Weise zu bewältigen, teilweise jedoch auch an ihr scheitern.

Auch wenn Europa nicht am Ursprung der Armut und Perspektivlosigkeit, des Krieg und der Gewalt steht, die Millionen Menschen zur Flucht bewegen, ist die Europäische Union dennoch verantwortlich für ihren Umgang mit solchen Krisensituationen. Verschiedene Länder im Mittelmeerraum, allen voran Malta und Italien, haben häufig, besonders zu Zeiten des populistischen Innenministers Salvini, ihre Häfen geschlossen, um Flüchtlingsschiffe am Anlegen zu hindern. Sie erklärten, dass sie die menschlichen und finanziellen Kosten einer solch massiven Flüchtlingswelle nicht allein stemmen könnten. Dies legt nahe, dass auch Solidarität unter den EU-Staaten unerlässlich ist, ein Hindernis, dessen Überwindung sich oft als schwierig erweist, besonders da manche EU- Staaten wie Polen und Ungarn jegliche Aufnahme von Flüchtlingen verweigern.

Keine einheitliche Flüchtlingspolitik

Hinzu kommt, dass Europa keine einheitliche Flüchtlingspolitik hat, eben weil die unterschiedlichen Länder keine gemeinsame Position vertreten. All das trägt zu den katastrophalen Zuständen bei. So sind 2018 offiziell rund 2.300 Menschen bei ihrer Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen, die Dunkelziffer der Verschollenen wird jedoch auf bis zu viermal so hoch geschätzt.

Europa ist also das große Ziel aller Geflüchteten, die sich mit dem Hoffnungsschimmer, eine bessere Zukunft zu finden, auf den oft gefährlichen Weg machen. Doch kann Europa auch die Antwort auf den Durst nach Menschlichkeit dieser verzweifelten Menschenmassen sein? Wenn man bedenkt, dass Griechenland seine Grenzen mit Wasserwerfern und Tränengas verteidigt, scheint es wohl eher nicht so; jedoch ist es einfach, einen falschen Eindruck zu bekommen. Man sollte nicht vergessen, dass die EU-Kommission allein in den Jahren 2015 und 2016 eine Summe von 1,8 Milliarden Euro zur Bewältigung der Flüchtlingskrise zur Verfügung gestellt hat.

„Nach Europa“ macht sein Publikum aufmerksam auf die Probleme, Konflikte und Missstände, mit denen Europa in der Flüchtlingspolitik noch zu kämpfen hat. Wichtig ist im Großen und Ganzen wohl allerdings, dass immer neue Verbesserungen angestrebt werden und dass mutig und entschlossen Versuche gewagt werden, wortwörtlich ein Anker für Notdürftige zu sein.

Atemberaubende Ausführung

Trotz aller Fortschritte, die noch gemacht werden müssen, kommt es vor allem darauf an, Menschlichkeit zu bewahren und sich, egal, welche Hürden sich Europa noch in den Weg stellen, immer vor Augen zu halten, dass Grenzen am Ende doch nur vorgegebene Schwellen sind, die dem Streben nach Humanität und Nächstenliebe untergeordnet sind. Wenn diese unantastbaren Werte erst einmal tief in den Menschen verankert sind, haben wir die richtige Richtung eingeschlagen. Denn vor allen Grenzen und Religionen sind alle Menschen zuerst einmal Mensch.

Zum 70-jährigen Jubiläum des europäischen Friedens treffen Lukas Ullrich und Till Florian Beyerbach von „Eure Formation“ aus Stuttgart mit „Nach Europa“ den Nerv der Zeit. Erfolgreich schaffen sie es, ein Aktualitätsthema in ein anderes Licht zu stellen, und sprechen vielen Leuten mit denen im Stück aufgeworfenen Fragen aus dem Herzen.

Starke Themen und die atemberaubende Ausführung dieser komplexen Problematik verschmelzen ineinander, um einen unvergesslichen Eindruck bei den Zuschauern zu hinterlassen und insbesondere junge Menschen auf originelle Art zum Nachdenken anzuregen – effizienter als eine Schulstunde. Wer Wissbegier und Aufgeschlossenheit mitbringt, wird von dieser Vorstellung nicht enttäuscht. Mit einem mulmigen Gefühl verlässt so mancher den Theatersaal, auf der einen Seite beeindruckt von der Lasershow, die virtuelle Räume schafft und einen in andere Welt versetzt, eine Welt, die aber gleichzeitig auch die der Realität ist, und auf der anderen Seite aufgewühlt und nachdenklich gestimmt durch Zitate wie „Christ und Moslem in einem Boot, das ist das Leben“. Als einziger Kritikpunkt könnte man anmerken, dass das Stück ein etwas reiferes Publikum anspricht und man daher das Mindestalter (14) um zwei Jahre heraufsetzen könnte.

Alles in allem ein absolut gelungenes Theaterstück, das in erster Linie erschüttert, auf Dauer aber zusammenhält. Auf die Menschlichkeit!