Samstag1. November 2025

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Die Parabel der GeschichteSteffen Kopetzkys historischer Roman „Atom“ behandelt ein nach wie vor aktuelles Thema

Die Parabel der Geschichte / Steffen Kopetzkys historischer Roman „Atom“ behandelt ein nach wie vor aktuelles Thema
Der Schriftsteller Steffen Kopetzky Foto: Jana Mai Photography

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Während sich der Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki zum 80. Mal jährt, ist die nukleare Gefahr spätestens nach den Drohungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin wieder verstärkt ins allgemeine Bewusstsein zurückgekehrt. Steffen Kopetzkys spannender Spionageroman „Atom“ handelt von der Entstehung ballistischer Raketen und dem Wettlauf um die Bombe.

Thomas Pynchons Meisterwerk „Die Enden der Parabel“ (1973) beginnt mit einem deutschen Raketenangriff auf London und beschreibt die Evakuierung der Stadt. Die Szene stellt sich als Traum einer Nebenfigur des Romans heraus, dessen Leitmotiv die deutsche V2-Rakete ist, mit der nahezu alle Personen des Buches in Verbindung stehen. Pynchon hat mehrere Erzählstränge entwickelt, die titelgebenden Enden der Parabel bezeichnen die Verbindungen zwischen zwei Gegensätzen, der Abschussstelle der V2 und deren Ziel.

Für Steffen Kopetzky ist der berühmte „Unbekannte“ der US-Literatur, als der Pynchon Kultstatus erreicht hat, der „Evangelist Johannes und Homer in einer Person“, wie der deutsche Schriftsteller in einem Interview bekannte. In Verehrung des Amerikaners sollte auch sein kürzlich bei Rowohlt erschienener Roman „Atom“ der Dramaturgie einer Raketenparabel gleichen, so der Autor: „Langsamer Aufstieg, größte Höhe am V-Punkt, um dann, sich immerzu beschleunigend, rasant zum Ende zu kommen“.

Der Rezensent ist Kopetzky etwa 1998 begegnet, als der Nachwuchsautor als „Baldreit“-Stipendiat der Stadt Baden-Baden in die Kurstadt gekommen war. Er sprach damals über den einst dort lebenden Expressionisten Otto Flake und dessen Erzählung „Der Pianist“, der ersten und letzten Meisterleistung eines vergessenen Autors, und kam auf die „schwarzen Stellen“ der Kultur zu sprechen. Er ging dabei auf den aus der Schwarzwaldregion stammenden Philosophen Martin Heidegger ein, der bis heute aufgrund seines Engagements für die Nazis umstritten ist.

Gut recherchiert und wendungsreich

Vor einem Vierteljahrhundert war Steffen Kopetzky noch auf der Suche nach seinem schriftstellerischen Weg. Den hat er längst gefunden und ist mittlerweile für seine gut recherchierten und zugleich spannenden Romane mit historischem Bezug bekannt, die zumeist im 20. Jahrhundert angesiedelt sind. „Propaganda“ (2019) etwa handelt unter anderem von einer der letzten Schlachten des Zweiten Weltkriegs im Hürtgenwald im Winter 1944/45. Spannungsgeladen, erzähltechnisch wendungsreich und historisch aufschlussreich, ist der Roman sowohl Kriegs- als auch Agentenroman.

Einige Figuren von „Propaganda“ tauchen im Nachfolgeroman „Monschau“ (2021) über einen Pockenausbruch in dem Eifelstädtchen im Jahr 1962 wieder auf. Und in „Damenopfer“ (2023) folgt Kopetzky der Spur der 1926 verstorbenen Journalistin, Schriftstellerin und Revolutionärin Larissa Reissner, deren Leben er in 23 Kapiteln aus verschiedenen Blickwinkeln nacherzählt. Besonders eindrucksvoll in Erinnerung geblieben dürfte das Kapitel über die Unterhaltung von vier Totengräbern auf einem Friedhof am Moskauer Stadtrand geblieben sein – über Gott, Welt und Revolution.

In „Atom“ erzählt Kopetzky von dem jungen britischen Physikstudenten Simon Batley, der in den 1920er Jahren zum Studium nach Berlin geht. Er studiert bei Albert Einstein und promoviert schließlich in Dresden. Bereits als 21-Jähriger wird er vom britischen Geheimdienst MI6 angeworben, um diesem zuzuarbeiten. Er soll den aus der Sowjetunion stammenden Alexander Scherschewsky ausspionieren. Außerdem findet Batley mit seiner Kommilitonin Hedi von Treyden, die für das deutsche Raketenprogramm arbeitet, die Liebe seines Lebens. Diese verliert er wieder, was für ihn zum Trauma wird. Während Batley und von Treyden fiktive Figuren sind, gab es Scherschewsky wirklich. Er fiel 1937 Josef Stalins Terror zum Opfer.  

Wettlauf um die Wunderwaffen

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs kontaktiert der Geheimdienst Batley erneut und beauftragt ihn, das Raketenprogramm der Deutschen auszukundschaften, die Entwicklung der „Vergeltungswaffen“ V1 und V2, von der Nazi-Propaganda als „Wunderwaffen“ bezeichnet. In der Zeit der sich abzeichnenden Niederlage des Dritten Reichs sowie des beginnenden Wettlaufs der Supermächte USA und Sowjetunion um die Atombombe, will das Vereinigte Königreich nicht gänzlich abgehängt werden. Doch das Rennen um den ersten Einsatz der Bombe machen die Amerikaner. Die Publikation des Romans war rechtzeitig für den Frühling 2025 und zum 80. Jahrestag des Kriegsendes sowie des Atombombenabwurfs von Hiroshima und Nagasaki vorgesehen.

„Atom“ ist sowohl Agenten- wie auch Wissenschaftsthriller und enthält sogar eine Love Story, also alles, was das Leserherz begehrt. Der Roman handelt von Spionage und Gegenspionage, von Bespitzeln und Verschleiern in einem engen Beziehungsgeflecht – und erinnert uns an die Bedrohung durch die tödliche, von Atomwaffen ausgehende Gefahr. Last but not least erfährt man einiges über den Rugbysport: „ein Barbarensport, der von Gentlemen gespielt wird“, wie es gleich im ersten Satz heißt. Oder auf Englisch: „Rugby is a ruffian’s game played by gentlemen” – angeblich soll das Oscar Wilde gesagt haben.

In dem Roman erfüllt Batley die Aufgabe eines sogenannten Verbinders – des „fly-half“. Der Begriff stammt aus dem Rugby. In einer Mannschaft der Rugby Union (15er Rugby) ist der Verbinder der zentrale Spieler zwischen Sturm und Verteidigung. Ein berühmter Vertreter dieser Position ist etwa der englische Weltmeister von 2000, Jonny Wilkinson. Die einzelnen Teile des Buchs, die wiederum in Kapitel gegliedert sind, sind in der Tat nach Begriffen aus dem 15er-Rugby benannt: „Verbinder“, „Gedränge“, „Ruck“, „Gasse“ und „Strafbank“. Übrigens kommen auch in anderen Romanen von Kopetzky Spiele vor: etwa Risiko, Poker und Schach.

Die Wissenschaft hat keine moralische Dimension, sie ist wie ein Messer. Wenn man es einem Chirurgen und einem Mörder gibt, gebraucht es jeder auf seine Weise.

Wernher von Braun, Raketenpionier

In dem aktuellen Buch sind außerdem historische Figuren wie Winston Churchill und Jona von Ustinov mit von der Partie, der Vater des später berühmten Schauspielers Peter Ustinov, aber auch James-Bond-Erfinder Ian Fleming sowie Wernher von Braun. Von dem Raketen- und Raumfahrtpionier, einst technischer Direktor der Heeresversuchsanstalt Peenemünde und später Leiter beim Bau von Trägerraketen für die NASA, ist dem Roman folgendes Zitat vorangestellt: „Die Wissenschaft hat keine moralische Dimension, sie ist wie ein Messer. Wenn man es einem Chirurgen und einem Mörder gibt, gebraucht es jeder auf seine Weise.“

Gegenspieler und zugleich die dunkle Figur hinter Forschern wie Wernher von Braun ist die ebenfalls historisch nachgewiesene Figur des Architekten und Bauingenieurs Hans Kammler, der zum SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS aufstieg und unter anderem für den Ausbau der unterirdischen Produktionsstätten für Düsentriebwerke, Motoren und Raketen, aber auch für Konzentrationslager inklusive Gaskammern und Krematorien verantwortlich war – und der ab August 1944 den Einsatz der V2-Raketen gegen Westeuropa befehligte. Im Roman gelangt Simon Batley, Kammler verfolgend, auf dessen Spuren nach Oberammergau sowie nach Pilsen und Prag. Ob Kammler, wie lange Zeit vermutet, kurz nach Kriegsende Suizid beging oder sich in Kriegsgefangenschaft begab und danach in den USA lebte, ist bis heute ungeklärt.

Wie mit seinen Vorgängerromanen „Monschau“ und „Damenopfer“ ist dem 1971 im oberbayerischen Pfaffenhofen geborenen Kopetzky, der in München, Berlin und Paris Philosophie und Romanistik studierte, ein historisch-politischer Roman der Extraklasse gelungen, der zudem Aktualitätsbezug hat. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 und den Drohungen des Kremlherrschers Putin mit dem Einsatz nuklearer Waffen ist die atomare Gefahr präsent wie schon lange nicht mehr. Nicht zufällig hat die japanische Friedensorganisation Nihon Hidankyo vergangenes Jahr den Friedensnobelpreis erhalten – ein Zeichen der Zeit. Sie setzt sich gegen die nukleare Aufrüstung und für die Überlebenden der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki ein.

Der Auslöser für seine Beschäftigung mit geopolitischen Fragen sei 9/11 gewesen, erklärt Steffen Kopetzky. Damals checkte der Schriftsteller gerade in einem Hotel in Baden-Baden ein, wo er zuvor Baldreit-Stipendiat gewesen war und der Rezensent ihn kennengelernt hatte. Kopetzky schaltete in seinem Hotelzimmer den Fernseher an und verfolgte das Geschehen in den USA. In einem Interview macht der Autor auf Churchills Wortspiel aufmerksam, dass ihm angesichts der brennenden Twin Towers der Gedanke gekommen sei, dass gerade etwas zu Ende gegangen sei oder etwas angefangen hatte. In der Tat galt beides – „der Zerfall der alten Zwischenkriegsordnung und der Beginn des Ringens um eine multipolare Welt, wie wir das heute erleben“.

Steffen Kopetzky: „Atom“, Verlag Rowohlt Berlin 2025, 416 S., 26 Euro