Originalität oder Klassik? (BILDER)

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Nach einer eher guten bis sehr guten Festivalausgabe stehen am Sonntagabend die Gewinner fest. Auch die in den letzten Tagen gezeigten Filme haben unter Umständen gute Chancen, vor allem der skandalumwitterte Gaspar Noé, der vor sieben Jahren dem Festival seinen obligaten Skandal bescherte. Von unserer Korrespondentin Martine Reuter, Cannes

Der Wettbewerbsfilm „Irréversible“ wurde damals von vielen Journalisten mit harscher Kritik abserviert, denn die neunminütige Vergewaltigungsszene hatte viele angeekelt und abgestoßen. Andere wiederum krönten ein neues Genie und beförderten Gaspar Noé zum neuen Kultautor.
Auch diesmal glaubte man, der neue Film würde hier an der Croisette Furore machen. Doch der vierte französische Wettbewerbsbeitrag entpuppte sich als weitaus harmloser als gefürchtet, oder gar erhofft.
„Enter the Void“ erzählt von einem jungen Amerikaner, der in Tokyo herumhängt. Oscar ist ein eifriger Drogenkonsument, etwas, das er sich nicht wirklich selbst eingesteht. Seit kurzem wohnt seine Schwester bei ihm und für beide ist es die lang ersehnte Familienzusammenführung, von der Bruder und Schwester immer wieder geträumt haben.
„Irréversible“ hatte vor sieben Jahren für viel Aufsehen gesorgt, doch die Negativpresse hatte dem Film einen falschen Blickwinkel beschert. Jeder sprach nur noch von der schrecklich brutalen Vergewaltigungsszene und dabei gingen alle anderen visuellen Meisterstücke in der Diskussion unter. Kaum jemand sprach von der Kameraarbeit, welche an den Zuschauer große Anforderungen stellte und auch der Schnitt, der den Film stückchenweise von hinten nach vorne erzählte, wurde von der Bluttat in die Ecke gedrückt.
Auch diesmal ist die Kontroverse da, wenngleich weitaus weniger stark. Es ist das Rotlichtmilieu und die Drogenszene, die Unbehagen bereiten und wie so oft recht freizügige Nackt- und Sexszenen. Aber auch diesmal beschreitet Gaspard Noé visuell innovative Wege. Die Geschichte wird größtenteils aus der Augen-Perspektive des jungen Oscar erzählt. Das Verfahren, den Erzähler zur Kamera werden zu lassen und so zu tun, als sehe man durch seine Augen, wird hier um eine veränderte Variante bereichert. Populär war dieses Vorgehen seit Mitte der 40er Jahre. Einer der bestbekannten Filme, die darauf zurückgreifen, ist „Dark Passage“ mit Humphrey Bogart, einer der bislang letzten „Le papillon et le scaphandre“ von Julian Schnabel.
Noé filmt allerdings nicht aus der Perspektive der Augen, sondern platziert die Kamera hinter dem Kopf. Dies wirkt etwas geheimnisvoller, denn nicht alles ist sichtbar.
Auch die Kamerafahrten sind ungewöhnlich aufwendig und bringen eine extreme Fluidität ins Spiel. Immer wieder hebt die Kamera ab zu langen Fahrten über das Set, über die Stadt. Dieser Blick von oben korrespondiert mit dem des jungen Oscar, der nach seinem Tod durch eine Polizeikugel nicht verschwindet, sondern als Kamera/Blick von oben über dem Geschehen weilt.
Visuell gesehen ist Gaspard Noés „Enter the Void“ der wohl aufregendste Film des Festivals. Für Noé gibt es keine Grenze zwischen Kunst und Pornographie. Alles kann zu Kunst werden. Alles, was auf ungewöhnliche Art wiedergegeben oder gefilmt wird, verdient die Bezeichnung künstlerisch oder experimentell zu sein.
Die Jurypräsidentin Isabelle Huppert, bekannt dafür, dass sie auch gerne Wagnisse eingeht, könnte sich für dieses Werk besonders interessieren.
Der drittletzte Wettbewerbsfilm kommt von Elia Suleiman, der mit „The Time that Remains“ über die Situation der Palästinenser reflektiert. In vier Kapiteln schaut er sich selbst und seinen Landsleuten über die Schulter und analysiert die Situation heute und gestern und geht bis ins Jahr 1948 zurück.

Zwischen Ernst und Komödie

Suleiman besitzt die große Fähigkeit, zwischen ernsten und komödiantischen Szenen hin und her zu wechseln, ohne dabei aus dem Rhythmus zu geraten. Es ist ein beständiges Auf und Ab zwischen humorigen Szenen und jenen, in denen Ernsthaftigkeit angesagt ist. „The Time that Remains“ klärt über die Situation der Palästinenser in Israel auf, ohne allerdings dies mit erhobenem Zeigefinger zu tun. Ein solides Werk, dem nur freundlicher Applaus zuteil wurde.
Vorletzter Film im Rennen um die begehrte Palme ist Tsai Ming Liangs „Visage“. Der taiwanesische Regisseur, bekannt durch Filme wie „The Hole“ und „What time is it, there?“ bleibt seiner langsamen und verschlüsselten Erzählweise treu. Diesmal aber geht er noch ein Stück weiter und wagt sich noch tiefer hinein ins mystische Dickicht. Und auch wer bislang eher Fan dieses bedächtigen Kinos war, wird am Ende vielleicht eher verdutzt auf die Leinwand schauen. Viele Elemente konnten entschlüsselt werden, andere wiederum blieben codiert und ließen demnach das Interesse am Film recht schnell schwinden.
Die Geschichte um einen taiwanesischen Regisseur, der den Mythos von Salome im Louvre drehen will, dabei die Hauptrolle mit dem französischen Schauspieler Jean-Pierre Léaud besetzen möchte, ohne auch nur ein Wort einer europäischen Sprache zu verstehen, garantiert von vorneherein ein gewisses Level an Kommunikationsproblemen. Es bleiben teils sehr schön zusammengestellte Dekore, von denen man einige schon in früheren Filmen gesehen hat, und viele große Namen des französischen Kinos. Doch können sie nicht über diese Schaffenskrise hinwegtäuschen.
Bleibt also nur noch ein einziger Film. „Map of the Sounds of Tokyo“ wird aber für die Presse erst nach Redaktionsschluss zu sehen sein. Am Sonntagabend werden dann die Gewinner verkündet. Und wie es aussieht, hat Frankreich diesmal gute Chancen auf Preise in unterschiedlichen Kategorien. „Le prophète“ von Jacques Audiard gehört nach wie vor zu den Favoriten für die Palme. Francois Cluzet in „A l’origine“ von Xavier Giannoli könnte einen Interpretationspreis bekommen und auch Gaspard Noé hat Potential. „Bright Star“ von Jane Campion könnte für einen Regiepreis in Frage kommen, eventuell könnten auch die Interpreten prämiert werden.
Michael Haneke hat mit „Das weiße Band“ sicherlich die Nase vorn, wenn es um den großen Preis der Jury geht, sollte er nicht sogar die höchste Trophäe mit nach Hause nehmen können.
Unter den Preisträgern könnte man auch „Fish tank“ von Andrea Arnold oder Pedro Almodovars „Abrazos rotos“, zwei sehr klassische Filme, oder auch noch den „Antichrist“ von Lars von Trier finden, ein irritierendes Werk, das mehr Fragen aufwirft als beantwortet, dafür aber den Stempel der Originalität verdient.
Wofür wird Isabelle Huppert sich entscheiden, was liebt sie mehr? Originalität oder aber eine klassische Annäherung an ein Thema?