Niemand versteht diese Welt

Niemand versteht diese Welt
(Alex Marin)

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Das Stück "99%" ist das Resultat eines Gemeinschaftsprojekts "Playing a part" von drei Theaterensembles: Independent little lies (Luxemburg), Teatro Excelsior (Italien) und Teatre de l’Enjòlit (Spanien).

Eine kurze Inhaltsangabe zu dem Stück können wir Ihnen an dieser Stelle nicht bieten. Da ist zum ersten die Geschichte, die zusammenzufassen schier unmöglich ist. Zu konfus ist sie, oder man sollte besser sagen: „sind sie“, da mehrere in das Stück hineingepresst wurden.

Das gibt es z. B. die Migranten, die ihre Heimat verlassen, und auf eine bessere Zukunft in der Stadt hoffen, sich dort aber als Bettler auf der Straße wiederfinden. Dann gibt es das Thema der Minderheiten und das der Kluft zwischen Arm und Reich, die immer größer wird. In diese roten Fäden zwängen die Autoren – der Luxemburger Ian de Toffoli und der Katalane Elies Barberá – dann weitere in sich abgeschlossenen Szenen, welche die „Geschichte“ nochmals unterbrechen. Perplex lässt einen z.B. der Auszug aus Ionescos „Unterrichtsstunde“.
Ein gelungener Moment dabei ist jedoch der Übergang von Ionescos Text zu der Problematik Arm/Reich. Von den Arithmetik-Übungen des „Professeurs“ gleitet der Text über zum Thema des einen Prozents der Weltbevölkerung, der 60 oder mehr Prozent des Wohlstands besitzt. Eine weitere dieser „eingefügten“ Szenen ist ein Minoritäten-Spiel, bei dem jeder Teilnehmer die Rolle einer Minderheit übernehmen muss: Schwarzer, Schwuler, Armer …

Zum konfusen Handlungsablauf kommt der Gebrauch von mehreren Sprachen auf der Bühne. Ein Großteil des Textes ist auf Katalanisch; daneben wird Luxemburgisch und Englisch gebraucht. Zum Schluss gibt es noch eine Szene mit italienischer Zeichensprache. Einerseits findet sich der Zuschauer dadurch zwar in der gleichen Situation wieder, in der viele Immigranten weltweit sind und versteht wenig von dem, was um ihn herum geschieht. Andererseits entfremdet es den Zuschauer aber auch vom Geschehen auf der Bühne. In den beiden erwähnten Szenen würde es schon weiterhelfen, wenn man wüsste, um was es geht. Das Stück wird zwar durch Übertitel begleitet, was an sich auch eine gute Idee ist. Allerdings sind nicht alle Szenen übersetzt, was eher störend wirkt. Hinzu kommt ein physischer Störfaktor: die Übertitel sind sehr hoch über der Bühne angebracht, was ihr ständiges Anschauen schwierig gestaltet.

Einfallsreiche Form der Inszenierung

Obwohl der Text brandaktuelle Themen aufgreift, die viele Menschen berühren – Armut, Unterdrückung von Minderheiten, Arroganz der Mächtigen und Reichen – kommen die Botschaften zu einfach, zu plakativ rüber. Der einfachen Form des Textes steht jedoch eine eher einfallsreiche Form der Inszenierung gegenüber.

Der Thematik sehr angepasst fanden wir das einfache, aber aussagekräftige Bühnenbild von Anne Simon: Gitter teilen die Bühne in zwei: Es gibt die Menschen davor und die dahinter. Hinter der Bühne laufen Videos oder hin und wieder der übersetze Text. Als gestalterischer roter Faden benutzt die Regisseurin – auch Anne Simon – Masken der katalanischen Maskenbildnerin Meritxell Morera: eine rote Perrücke, Gasmasken, und verzerrte Totenmasken und eine Guy-Fawkes-Maske, bekannt durch die Hacker-Gruppe „Anonymous“. Letztere wird z. B. einigen Figuren zum Tragen angeboten, die sie aber ablehnen. Keiner will „anonymous“ sein.

Beeindruckend fanden wir das Spiel der beiden katalanischen Schauspieler Elies Barberá und Arnau Marín. Ihre Körpersprache glich viel von dem Frust aus, den das mangelnde Textverständnis bereitet.

Das Experiment „99%“ hinterlässt vor allem ein verstörtes Publikum. Einige Zuschauer verließen den Saal schon nach zwanzig Minuten. Sie sollten bis zum Ende des Stücks nicht die Einzigen bleiben. Der Schlussapplaus hörte sich auch größtenteils eher als Anstandsapplaus an: Zwar heftig, aber kurz. Den Vorschlag der Regisseurin nach dem Ende, für Fragen des Publikums noch zur Verfügung zu stehen, nahm der Großteil der Besucher nicht an, sondern stürmte an ihr vorbei ins Foyer. 99 Prozent mussten ihr Erlebnis erst mal verkraften.