Slowenische Literatur„Mein Nachbar auf der Wolke“: Eine lyrische Schatzkammer

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Ljubljanas Drachenbrücke: So facettenreich wie die Architektur ist auch die literarische Landschaft in Slowenien
Ljubljanas Drachenbrücke: So facettenreich wie die Architektur ist auch die literarische Landschaft in Slowenien Foto: Pixabay/Daniela Turcani

Slowenien ist Ehrengast auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse. Wer sich im Vorfeld von der literarischen Fülle des Landes überzeugen möchte, sollte unbedingt einen Blick in die Anthologie „Mein Nachbar auf der Wolke: Slowenische Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts“ werfen.

Mit seinen zwei Millionen Einwohnern ist Slowenien ein recht kleiner Staat, und doch ist allein seine jüngste Geschichte so wechselreich wie in kaum einem anderen Land in Europa: „Manch einer, der auf dem Gebiet des heutigen Staates Slowenien lebte, wechselte [während des 20. Jahrhunderts] sechsmal die Pässe und Staatsbürgerschaften, ohne dabei jemals seinen Wohnort zu verlassen“, vermerken die Herausgeber Matthias Göritz, Amalija Macek und Ales Steger im Nachwort zu „Mein Nachbar auf der Wolke: Slowenische Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts“. Laut ihnen seien die Slowenen aufgrund der zahlreichen Umschwünge misstrauisch gegenüber der Politik geworden; vielleicht sei aus dieser Unbeständigkeit aber auch ein umso größeres Vertrauen in die Dichtung erwachsen.

Welch hohen Stellenwert die Lyrik in Slowenien genießt, zeigt die poetische Reichhaltigkeit des Bands „Mein Nachbar auf der Wolke“. Insgesamt sind 80 Dichter vertreten; neben der deutschen Übersetzung ist auch immer der Originaltext auf Slowenisch enthalten. Das Werk sei die bis dato vollständigste Anthologie moderner slowenischer Lyrik, unterstreichen die Herausgeber. 16 der wichtigsten slowenischen Dichter werden einzeln vorgestellt, überdies gibt es zehn Kapitel, welche die zentralen Themenfelder slowenischer Lyrik behandeln, darunter zum Beispiel „Tiere & Pflanzen“ (Naturlyrik spielt eine große Rolle in Slowenien), „Revolte & Kampf“ und „Stadt und Zuhause“.

Der Dichter als Monstrum

Die Poesie selbst wird auch immer wieder Gegenstand der Texte: „Gedichte schreiben: / aus einer Sprache übersetzen, / die es nicht gibt“, schreibt Fabjan Hafner. Und Tomaz Salamun dichtet: „Die Wörter zittern, / wenn sie // richtig sind.“ Die Vielzahl an eingelagerten poetologischen Überlegungen kann man als Ausdruck souveräner Selbstaffirmation und/oder kritischer Selbstbefragung vor dem Hintergrund ständiger gesellschaftlicher Umbrüche und der fortwährenden Neu-Konstellierung literarischer Strömungen verstehen. Selbstironie ist für manche Dichter dabei mitunter das Mittel der Wahl. „Jeder Dichter ist ein Scheusal“, urteilt Tomaz Salamun, „der Dichter verkauft seine Seele, / um sie vom Körper zu trennen, den er liebt.“

Besondere Aufmerksamkeit verdienen auch die in die Anthologie aufgenommenen haikuesken Kleingedichte, die mit nur drei Zeilen auskommen und dabei eine unheimliche Ausdrucksstärke besitzen. Hier sei Svetlana Makarovics Gedicht zu nennen, welches das Kapitel „Verwandtschaft und Nähe“ einleitet: „Der Knabe reglos. / Ein roter Fleck im Schnee. / Ich bin keine Mutter.“ Ist hier ein tragischer Unfall oder gar ein Mord passiert? In dem finalen Vers schwingen Bitterkeit und Schuldgefühl mit, dabei wehrt die Sprecherin jegliche Zuschreibung als Mutter ab: Es findet ein radikaler Bruch mit dieser sozialen Rolle statt – ist dies als angriffslustiger, ja grauenhafter Befreiungsschlag oder gramvolle Selbstkasteiung zu verstehen?

Die Zeit fliegt dahin

Ein anderes, etwas längeres Gedicht von Milan Jesih kreist um den überschnellen Lauf der Zeit und die Vergänglichkeit, angesichts derer die Zeitspanne eines Lebens zu einem kurzen Augenblick zusammenzuschrumpfen scheint: „Auf dem Wasser schwimmt / eine Holzente. / Der Sommer welkt. / Wie wird die Enkelin / zur Oma? / Bisschen warten.“ Der lapidar formulierte Schluss wirkt wie ein sprachliches Fingerschnippen, mit dem man wie mit einer Zeitmaschine flugs ein halbes Jahrhundert oder mehr überspringen kann, wobei ja gerade auf das Warten und mit ihm auf das als langsam empfundene Fortschreiten der Zeit verwiesen wird. Es ist das dem Verb vorangestellte umgangssprachliche „Bisschen“, welches die Jahrzehnte des Alterns, die zwischen Lebensanfang und Lebensende stehen, allzu flüchtig erscheinen lässt.

Dieses und viele andere Gedichte zeigen, dass inmitten der slowenischen Literaturlandschaft eine lyrische Schatzkammer liegt, die es verdient, oft aufgesucht und durchstöbert zu werden – und dank „Mein Nachbar auf der Wolke“ wird sie nun endlich, rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse, für ein größeres Publikum aufgeschlossen.

Die Anthologie

„Mein Nachbar auf der Wolke: Slowenische Lyrik des 20. und 21. Jahrhunderts“
Herausgeber: Matthias Göritz, Amalija Macek und Ales Steger
Carl-Hanser-Verlag
312 S., 36 Euro
ISBN-10‎ 3446276319
ISBN-13 978-3446276314