Noch vor wenigen Jahren wäre es undenkbar gewesen, dass ein Informatiker den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhält. Doch der Börsenverein trifft mit dieser Entscheidung nicht nur den Zeitgeist, sondern bleibt sich auch selbst treu. Ausgezeichnet wird ein Internetpionier, der dazu aufruft, sich Gedanken über das Internet zu machen, bevor uns die vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten der Technik das Denken abnehmen.
" class="infobox_img" />Der Gewinner des Friedenspreises Jaron Lanier. (Editpress)
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Seit 1950 verleiht der Börsenverein, der Dachverband der Verlage und Buchhandlungen in Deutschland, den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Laut Statut dient die Stiftung „dem Frieden, der Menschlichkeit und der Verständigung der Völker. Dies geschieht durch die Verleihung des Friedenspreises an eine Persönlichkeit, die in hervorragendem Maße vornehmlich durch ihre Tätigkeit auf den Gebieten der Literatur, Wissenschaft und Kunst zur Verwirklichung des Friedensgedankens beigetragen hat“. Preisträger der vergangenen Jahre waren Swetlana Alexijewitsch (2013), Liao Yiwu (2012), Boualem Sansal (2011), David Grossman (2010) und Claudio Magris (2009).
In einem schwarzen Baumwoll- T-Shirt der Größe XXL, das dennoch an seinem Bauch spannt, schlappt Jaron Lanier hinein, in den Konferenzsaal auf der Frankfurter Buchmesse. Das Blitzlichtgewitter geht los, Lanier kreischt wie ein hysterisches Mädchen, versucht zu posieren und wischt sich die meterlangen Dreadlocks aus dem Gesicht. „Wollt ihr nicht lieber mit mir reden, als mich zu fotografieren?“, fragt er und vergleicht die Fotografen mit einer Herde dressierter Tiere, die gelernt haben, auf seine Handbewegung zu reagieren. Als Lanier dann endlich sitzt, hat niemand eine Frage.
Jaron Lanier soll, so ist es im Internet nachzulesen, als Dreizehnjähriger an der New Mexico State University zum Mathematikstudium zugelassen worden sein, später dann eine Kunsthochschule in New York besucht und als Hebamme gearbeitet haben. Bekannt geworden ist Lanier jedoch als derjenige, der den Begriff der „Virtual Reality“ prägte. Er gilt als einer der Vordenker des Internets und als Mitbegründer des digitalen Zeitalters, er entwickelte Technologien für die virtuelle Welt, manche Medien bezeichnen ihn auch als den „Netzintellektuellen“.
Als immer noch keiner eine Frage stellen möchte, holt Lanier seine Khaen unter dem Tisch hervor und spielt den verstockten Journalisten ein Ständchen. Verhaltener Beifall. Lanier ist auch Musiker, er besitzt über tausend antike Musikinstrumente, die Khaen, dieses quietschige Blasinstrument aus Laos, ist eines von ihnen.
Lanier blickt in die Runde und beginnt zu reden, etwas diffus, viel zu schnell, selten bringt er einen Satz zu Ende. Wie global die Welt doch schon immer gewesen sei, stellt er fest. Seine Khaen zum Beispiel, dieser schrille Schatz aus Südostasien, habe bereits vor tausend Jahren die westliche Welt beeinflusst. Eigentlich sei sie mit ihren 16 Röhren der Ursprung des Computers, sagt Lanier voller Überzeugung und blickt in die verdutzten Gesichter der Journalisten. Im Hinblick auf die erdbebenähnlichen Veränderungen, die durch die Digitalisierung über die Welt des Buchhandels hereingebrochen sind, kann man, wie es Heinrich Riethmüller, der Vorsitzende des Börsenvereins, bei der Pressekonferenz mit Lanier auch tat, die Entscheidung für Lanier als eine durchaus mutige bezeichnen.
Denn auf den ersten Blick ist Lanier, als populärer Repräsentant des digitalen Zeitalters, nicht gerade „einer von ihnen“. Doch nur auf den ersten Blick. Blättert man seine zwei zuletzt erschienen Bücher durch, wird sehr schnell klar, warum Lanier eben doch in die Riege der Friedenspreisträger und zu den Werten des Börsenvereins passt.
„Gadget. Warum die Zukunft uns noch braucht“ (2010) und „Wem gehört die Zukunft?“ (2013) sind als Apelle formuliert, wachsam gegenüber Unfreiheit, Missbrauch und Überwachung zu sein, der Mensch müsse der digitalen Welt klare Strukturen vorgeben, die die Rechte des Individuums beachten und die demokratische Teilhabe aller fördern. Gerne spricht Lanier von einem digitalen Humanismus, der das kritische Bewusstsein des Individuums fördert und sich gegen die Vorstellung wehrt, Menschen zu Gehilfen von Maschinen zu machen.
Mit diesem Vokabular trifft Lanier genau den Wortschatz des Börsenvereins. Und auch wenn Lanier polarisiert, als Nerd, aber auch als Gutmensch, die Entscheidung, ihm den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zu verleihen, ist dennoch eine gute. Zumindest für alle jene, die sich für Analyse und Kritik des Informationszeitalters interessieren.
De Maart

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