Erinnert sich noch jemand an die „Ice-Bucket-Challenge“, die vor ein paar Jahren auf sozialen Netzwerken ihr Unwesen trieb und junge Leute dazu herausforderte, sich dabei filmen zu lassen, wie sie sich einen mit Eiswürfeln gefüllten Eimer über den Kopf gießen, nur um sich nachher damit zu vergnügen, jemand anders mit diesem gekühlten Kettenbrief herauszufordern?
Ebendieses schwachsinnige Unterfangen, das sich irgendwann mal unter die historiografische Dokumentierung der Verblödung der Menschheit auf dem World Wide Web mischen wird, wurde zu einem der zentralen ästhetischen Kniffe von Frank Feitlers sehr gelungener Inszenierung von Büchners „Lenz“ – einer Inszenierung, an der im Stillen seit nunmehr 15 Jahren gearbeitet wird, denn so lange hat sich der Reifeprozess, wie das Duo Feit/ler erklärte(1), hingezogen.
Sieht man sich das Stück an (oder liest man den Prosatext von Büchner), merkt man sofort, wieso der kreative Prozess so lange gedauert hat: Der Text von Büchner ist dicht, intensiv und verlangt dem Zuschauer so einiges ab, da es sehr wenige narrative Sequenzen gibt, an denen man sich festhalten kann. Diese Dürre spiegelt sich auch im gequälten Innenleben der Figur des Lenz wider und wird durch einen szenischen Minimalismus, der sich ganz auf die Hauptfigur (und die schauspielerische Leistung von Feit) fokussiert, unterstrichen.
So hört man zu Beginn nervös herumirrende Schritte in der Dunkelheit, die das Perimeter der Bühne abmessen und in den Rhythmus des Stückes einführen. Wenn das Licht dann einsetzt, sieht man bloß ein Paar Schuhe: Die Figur des Lenz charakterisiert sich szenisch erstmals durch ihre Abwesenheit, ihre innerliche Zerrissenheit wird durch den Verdopplungseffekt verbildlicht – die Schuhe stehen hier metonymisch für die danach auftauchende Person und ihre schizophrene Unruhe.
Die schwierige Last des Pioniers
Der posthum veröffentlichte „Lenz“ erzählt die Geschichte der Flucht und des mentalen Niedergangs des Schriftstellers Jakob Michael Reinhold Lenz. Dieser ist, wie Büchner seinerzeit, auf der Flucht, exiliert sich in einem kleinen Dorf, wo er beim Pfarrer Oberlin unterkommt, wird von der Familie immer wieder gebeten, zurückzukehren, verfällt nach und nach dem Wahnsinn einer solipsistischen Weltwahrnehmung, da diese (die Welt) zu sehr mit seinen Ansichten kontrastiert.
Wie es der Begleittext, ein Artikel von Peter Schneider aus der Zeit (bereits 1979 veröffentlicht), ausdrückt, zeigen sich durchaus Parallelen zwischen der Enttäuschung von Lenz und der Lebenserfahrung von Büchner, da beide versuchten, Ideen der Emanzipation, der Revolution und der Auflösung der Kluft zwischen Reich und Arm in eine Gesellschaft, die dazu nicht bereit war, zu importieren.
Laut Schneider gehörten beide zu diesen gepeinigten Leidensfiguren, deren Ideen zu progressiv für ihre Zeit waren, so dass niemand gewillt gewesen wäre, ihr abstraktes theoretisches Innenleben in der Wirklichkeit aufzunehmen. So z.B. auch, wenn Lenz in einem grandios gespielten Segment jenes Literaturverständnis, welches den Naturalismus verneint, um einem platonischen Idealismus zu frönen, im Laufe eines Streitgesprächs radikal verwirft.
Hier gelingt es Feitler und Feit, eine an sich theorielastige Passage sehr lebendig und mitreißend umzusetzen (obwohl ich nicht weiß, wie sehr ein Zuschauer, der ein statistisch gesehen durchschnittliches Interesse an Literaturtheorie – bedeutet wohl: keines – mit ins TNL bringt, von dieser Sequenz beflügelt sein wird).
Die Saison des Monologs
Das Scheitern des geistigen Prozesses des Umschwungs, der von Lenz (und Büchner) versucht wird, hat eine emotionale Leere, eine Versteinerung, die Psychoanalysen heute als Depression oder Anhedonie (den Zustand emotionalen Ablebens) abstempeln würden, zur Folge, Feitler lässt Feit dafür vier Eimer mit Eiswürfeln über sich gießen, wobei die ersten Eimer noch der empfehlenswerten Abkühlung der inneren Getriebenheit dienen können, die letzten aber schon eher das Abstumpfen der Enttäuschung, den inneren Gefrierprozess ausdrücken – schließlich endet der Text, nach Lenz’ gescheitertem Freitodversuch, mit folgender Aussage: „Es war aber eine entsetzliche Leere in ihm, er fühlte keine Angst mehr, kein Verlangen; sein Dasein war ihm eine notwendige Last. – So lebte er hin.“ Monologe scheinen diese Theatersaison in Luxemburg in der Mode zu sein. So reiht sich „Lenz“ in eine Serie ein, die mit dem grandiosen Saisondebüt des Théâtre du Centaure („Mission“) eingeleitet und mit Charles Mullers „Ein Bericht für eine Akademie“ fortgeführt wurde – und die u.a. mit „Tiamat“ von Ian De Toffoli fortgesetzt wird.
Nach Francesco Mormino in „Mission“ und Germain Wagners Affen in „Ein Bericht für eine Akademie“ ist es nun an Luc Feit, sein Talent zur Schau zu stellen – was dieser innerhalb einer Stunde durch eine fast hyperaktive, schnelle, wechselreiche, präzise Performance auch auf eine beeindruckende Art und Weise tut.
Herausfordernd war es außerdem, wie auch bei Mullers Kafka-Inszenierung, einen Prosatext kohärent auf die Bühne zu bringen, ohne dass man diese transmediale Übertragung zu sehr auf die leichte Schulter nimmt.
Büchners Prosatext, der als Patchwork funktioniert und schriftliche Dokumente des Pfarrers Oberlin, bei dem Lenz Zuflucht gesucht hatte, eingliedert, pendelt zwischen einer figuralen Er-Erzählung und Momenten homodiegetischer Einsicht ins Innenleben der Figur, in denen man das aufgewühlte Gemüt der Figur hautnah miterlebt. Es ist gerade dieses Wechselspiel, das im Stück unter Feitlers Leitung und Feits Spiel ein dynamisches Eigenleben entwickelt, da so die emotionslose Entfremdung der Figur wie auch ihre Aufgebrachtheit alternativ vorgeführt und Feits Gesicht gleichermaßen zur Projektionsfläche anderer Figuren und Eindrücke werden: Das Ich, ganz im Sinne von Rimbaud, fließt nahtlos in das Andersartige über.
Das Bühnenbild, das in seinem Minimalismus fast schon auf die Moderne Becketts verweist, kontrastiert so mit der Dichtheit des Sprachgefüges und dem eloquenten Pathos des aufgebrachten Lenz, die Dunkelheit wird von spärlichen Lichtern aufgebrochen, die hier das verzerrte, im Laufe des Stücks in eine aus Asche und Wasser gefestigte Maske verwandelte Gesicht von Feit, dort die schwarzen Vorhänge des Theaters wellenartig aufleuchten lassen: Jedes Element kann auf möglichen Bedeutungszusatz verweisen, ohne das Stück mit schwerfälliger Symbolik zu belasten. Ob die Standing Ovation am Ende des Stückes verdient ist, lässt sich diskutieren(2), dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass hier aus einem schwierigen Stoff ein zwar forderndes, aber nicht unzugängliches, exzellent gespieltes und clever inszeniertes Stück geschaffen wurde.
(1) Siehe Interview im Luxemburger Wort vom 10. November 2017.
(2) In meinen Augen rührt der Banalisierungsprozess der Standing Ovation daher, dass sich oft im Publikum eine mimetische Neigung erkennbar macht, die sich darin manifestiert, dass die meisten einfach aufstehen, weil der Nachbar oder die vordere Reihe es auch gerade tut.
De Maart

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