Egoistisch bis zum Ersticken

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Die französische Schriftstellerin Emmanuelle Bayamack-Tam beschreibt in „Ich komme“ drei Frauen aus unterschiedlichen Generationen. Die dunkelhäutige Charonne wird in dem bösen Buch Opfer von Rassismus und ihren egoistischen Adoptiveltern.

Von Roland Mischke

Vor dem Jugendamt in Marseille stand eine heruntergekommene Mülltonne. Darin wurde ein nicht gewolltes Kind hineingelegt, an seinem Strampler hing ein Fetzen Papier, auf dem die Mutter ohne mütterliche Gefühle den Namen des Säuglings gekritzelt hatte. Charonne, ein ausgefallener Name für das unbehauste Geschöpf. Emmanuelle Bayamack-Tam erzählt in „Ich komme“ ihre Geschichte.

Erst aufgenommen – dann verstoßen

Jahre später sitzt Charonne, schwarze Haut, große Augen, welliges festes Haar, wieder im Jugendamt. Sie ist sechs, war von einem Paar adoptiert worden, doch die Eltern wollen die Kindergabe nicht mehr. In Gegenwart von Charonne flüstern und murmeln sie erst davon, dass sie die Adoption rückgängig machen wollen. Charonne soll wieder ins Heim, aus dem sie einst in eine Familie aufgenommen wurde.

Die Eltern glauben, dass das Kind nicht versteht, worum es im muffigen Behördenzimmer geht. Doch Charonne ist kein Kleinkind mehr. Sie sieht sich selbst in einem Wandspiegel, wie sie zwischen den Eltern sitzt, die über ihr Schicksal entscheiden. Die immer hektischer der Frau vom Jugendamt darlegen, warum sie das Kind loshaben wollen. Es macht absichtlich ins Bett, hat gezündelt, gehorcht nicht, ist übergewichtig. „Wir sind am Ende. Wir wissen uns nicht mehr zu helfen.“

Autorin berichtet von eigenen Erfahrungen

Was geht in einem Kind vor, wenn es vor seiner Ausstoßung steht? Die beiden Menschen, die Mutter und Vater sein wollten, haben sie zu sich genommen, wie man etwas kauft. Jetzt macht das einstige Objekt der Freude keinen Spaß mehr. Es soll weg. Das ist infantil, dekadent, dumm. Charonne wird später nur mit Hass an die Eltern zurückdenken, allenfalls wird sie sich noch daran erinnern, dass der Großvater mit ihr spazieren ging, er hielt seine Enkelin, das „Negerkind“, wie er es nannte, an der Hand. Als er mit dem Kind in sein Stammlokal einkehrte, grölten seine Kumpane. „Hast du etwa vergessen, sie zu waschen?“

Diesen offenen Rassismus bis hin zur Verstoßung habe sie, sagt Bayamack-Tam, 51, real erlebt. Sie hat zwei Töchter mit ihrem ersten Ehemann aus Kamerun, die „metisse“ sind, gemischt. Das Paar ist geschieden, die Autorin hat den Nachnamen behalten. In zweiter Ehe ist sie mit einem Araber und dessen beiden Söhnen zusammen, auch da erfährt sie die Missgunst ihrer Landsleute, krassen Mangel an Empathie, Verachtung. Die Welt, in der diese Schriftstellerin lebt, die acht Bücher veröffentlicht hat, davon solche, die Auszeichnungen erhielten, und die im Hauptberuf seit vielen Jahren als Lehrerin für Sprache und Literatur arbeitet, ist eine Welt, in der Menschen mit ihresgleichen nicht gut umgehen.

Ein böses Buch

Dieser Roman ist nicht im Geringsten ironisch oder sarkastisch geschrieben, sondern böse. Bitterböse. Und das zu recht. Bis an den Rand der absurden Komödie, der menschlichen Hölle, des Hasses, des Rassismus, des Scheiterns im Altern.

Drei Frauen stehen im Mittelpunkt, neben Charonne ihre Adoptivmutter Gladys, zudem deren Mutter Nelly, die mal Charonnes Großmutter war. Gladys ist eine verbitterte Frau, wohlhabend, aber mit zu wenig Liebe aufgewachsen. Sie wird nur von materiellen Sorgen geplagt, und selbst aus Bhutan, dem angeblich glücklichsten Land der Erde, in dem sie sich monatelang aufhielt, kehrte sie nicht glücklich zurück. Nelly, die 88-Jährige, war vor langer Zeit ein beliebter Filmstar, das Alter hat sie pessimistisch gemacht, sie ist müde und kümmert sich nur noch um die Bewältigung des öden Alltags.

Die hier beschriebenen Menschen aus der Oberschicht sind egoistisch bis zum Ersticken. Es ist erstaunlich, wie präzise und dennoch poetisch geschrieben ist: Es fehlt Liebe.

Emmanuelle Bayamack-Tam: „Ich komme.“ Aus dem Französischen von Christian Ruzicska. Secession-Verlag, Berlin, 398 S., 25 Euro.