Das Kollektiv der Verlierer

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Arno Geiger führt die Leser in seinem einfühlsamen Roman „Unter der Drachenwand“ ins Kriegsjahr 1944. Er beschreibt das Überleben der Einzelnen, während der Untergang des Naziregimes beginnt.

Arno Geiger führt die Leser in seinem einfühlsamen Roman „Unter der Drachenwand“ ins Kriegsjahr 1944. Er beschreibt das Überleben der Einzelnen, während der Untergang des Naziregimes beginnt. Seine Figuren hat er aus dokumentarischem Material entwickelt.
Von unserem Korrespondenten Roland Mischke

„Mein Oberschenkel: der war nun wirklich ein merkwürdiges Kapitel.“ Der das aufschreibt, ist Veit Kolbe, 24, in Wien aufgewachsen, Wehrmachtssoldat und Kriegsverletzter. In Wahrheit stammt der Satz mit dem komischen Vergleich eines Körperteils als Kapitel natürlich von Arno Geiger, einem sprachlich talentierten Autor. Der sich aber in „Unter der Drachenwand“ vertieft hat in seine Jungmännerfigur, und zu der passt dieser Satz.

Geiger beschreibt das Jahr 1944

Veit Kolbe wurde ein Bein durchschossen, ein Kiefer gebrochen und er wird von Angstattacken geplagt. Der Lastwagenfahrer an der Ostfront hat Unglaubliches gesehen und erlebt, das hat seine Jugend aufgefressen. In Mondsee, einem Ort nahe Salzburg am Fuß eines riesigen Gebirgsmassivs, der Drachenwand, wird der Verwundete behandelt, aber für seine Seele gibt es keine Medizin. Das therapeutische Tagebuchschreiben hilft Kolbe ein wenig, aber der Schmerz darüber, dass seine Jugend verloren ist und vielleicht auch seine Zukunft, quält den Traumatisierten.


Das Buch

Arno Geiger: „Unter der Drachenwand“
Hanser, München, 480 Seiten, 26 Euro.

Eine Leseprobe gibt es hier.

 


Der österreichische Schriftsteller Geiger, 49, der bereits einige anspruchsvolle Romane vorgelegt hat, beschreibt in seinem neuen Buch das Weltkriegsjahr 1944, in dem der Untergang des Naziregimes beginnt. Das ist meisterlich verfasst, denn Geiger hat nicht nur seinen Protagonisten Kolbe, sondern eine Reihe von Erzählstimmen parat, die alle davon berichten, wie es schlechter und noch schlechter wird. Der Krieg hat sich auch auf die Zivilgesellschaft ausgewalzt, niemand wird mehr verschont. Jetzt kommt es auf das Beharren der Einzelnen an, das wird erzählt. Dem Titel des Romans ist schon die Bedrohung eingeschrieben. Zwar ist die „albtraumhaft hingestellte Drachenwand“, wie Kolbe festhält, auch ein gewisser Schutz. Aber nicht mehr, wenn das Unheil sich über die Menschen in Mondsee ausbreitet.

Stimmen des Krieges prägen den Roman

Schicksale werden von Geiger parallelisiert, das nahende Kriegsende betrifft die hitlergläubige Quartierfrau, bei der Veit ein Zimmer hat, ebenso wie ihn und seinen Onkel, der in Mondsee als Polizist agiert. Und es betrifft auch Margot aus Darmstadt, die es mit ihrem Baby hierher verschlagen hat und in die sich Veit verliebt. Zudem wird aus dem Alltag in Wien berichtet, von den Verwirrungen und Verheerungen, die der untergehende Nationalsozialismus mit sich bringt. Geiger fügt alle zusammen zum Kollektiv der Verlierer. Am Ende des Jahres besinnt sich die Heeresführung auch auf Veit, der, einigermaßen genesen, nun per „Beorderung“ aus Wien damit rechnen muss, zum Endkampf eingezogen zu werden.

Dem Autor gelingt es, die widersprüchlichen Gefühle seiner Figuren gut herauszuarbeiten. Der jüdische Zahntechniker in Wien, der seinen Sohn gerade mit einem Kindertransport nach Großbritannien bringen ließ, dann aber mit seiner Frau ausgerechnet nach Budapest fliehen will. Rührend sind auch die Briefe eines 17 Jahre alten Wiener Schülers, der seiner evakuierten Freundin berichtet, wie er sich in der immer stärker vom Feind bedrohten Heimatstadt fühlt. Stimmen des Krieges in seiner letzten Phase prägen den Roman, dem Leser gelingt es, sich in das fürchterliche Jahr 1944 hineinzuversetzen.

Aus dokumentarischem Material entwickelt

Trotz aller Gräuel geht das Leben weiter, auch das Lieben. Es wird denunziert, es gibt Verhaftungen, zwei Tote, schließlich Chaos im Ort – aber die Sehnsucht nach Normalität hält an. Im Anhang listet Geiger auf, was aus seinen Figuren geworden ist. Er hat sie aus dokumentarischem Material entwickelt, aus der historischen Realität im Finale des schlimmsten aller Kriege. Das kann man in keinem Geschichtsbuch finden, dazu braucht es die Literatur.