Dienstag30. Dezember 2025

Demaart De Maart

Lust zu lesen„Czernowitz“: Ein kulturelles Zentrum in Zeiten des Krieges in der Ukraine

Lust zu lesen / „Czernowitz“: Ein kulturelles Zentrum in Zeiten des Krieges in der Ukraine
Helmut Böttiger begibt sich auf die Spuren von unter anderem dem Lyriker Paul Celan Foto: Cordula Giese

Jetzt weiterlesen!

Für 0,99 € können Sie diesen Artikel erwerben:

Oder schließen Sie ein Abo ab:

ZU DEN ABOS

Sie sind bereits Kunde?

In den Kriegsmeldungen aus der Ukraine taucht Czernowitz an der Grenze zu Rumänien bislang nicht als Angriffsziel der russischen Armee auf. Über hunderttausend Binnenflüchtlinge beherbergt aktuell die Stadt, und der deutsche Publizist und Literaturpreisträger Helmut Böttiger setzt die aktuelle Lage ans Ende seines im klassischen Reisereportage-Stil abgefassten, ausgesprochen lesenswerten Textes „Czernowitz – Stadt der Zeitenwende“.

Über 30 Jahre beobachtete der Autor die Entwicklung der ehemaligen Hauptstadt der Bukowina. Drei Reisen, im Juli 1993, Mai 2005 und im September 2022, nutzt er als Untergliederung seiner Beobachtungen vom Wandel der Stadt von „einem aus sowjetischem Tiefschlaf erwachten Vielvölker-Labor brutaler Umsiedlungspolitik zum Schauplatz der Orangenen Revolution. Und schließlich zu einer Stadt in der neuen, sich ihrer Eigenständigkeit und eigenen Sprache bewussten Ukraine, die sich gegen den mörderischen Zugriff der alten Besatzer verteidigen muss“.

„Die Koordinaten ändern sich“

In den Zeiten vor und zwischen den Weltkriegen war Czernowitz geradezu ein Paradebeispiel für die große kulturelle Vielfalt und Betriebsamkeit in der Region, für die amerikanische Filmfirmen ein eigenes, zentrales Vertriebssystem organisierten und von welcher der französische Regisseur Marcel Carné später berichtete, dass allein die dortigen Einspielergebnisse für die Deckung der Produktionskosten seiner Spielfilme in den 1930er-Jahren u.a. mit Annabella als Star ausreichten. Böttiger nimmt in seinem Text häufig Bezug zu Paul Celan, der aus Czernowitz stammte und in gewisser Weise in seinen Gedichten die kulturelle, immer auch jüdisch deklinierte Vielfalt seiner Geburtsstadt widerspiegelt – und sei es als Sehnsucht nach einer Epoche, die in den Gräueln des Zweiten Weltkrieges unterging.

Es gehört zu den bedrückenden Tatsachen, dass die verbindende Klammer zwischen gestern und heute der Krieg darstellt. In Gesprächen mit dem Lemberger Schriftsteller und Psychoanalytiker Jurko Prochasko, den Böttiger in Czernowitz trifft, werden die kaum vermittelbaren Widersprüche in den Perspektiven auf den russischen Angriffskrieg offenbar. Der konkreten Gefahr, die Prochasko beschreibt (auch, weil er im Grunde stündlich mit seiner Einberufung zum Militärdienst rechnen muss) stellt Böttiger den unumstößlichen Fakt gegenüber, selbst „aus einem Land der Täter zu kommen“, derentwegen nicht zuletzt auch in Czernowitz vor nunmehr 80 Jahren Mord und Totschlag herrschte. Es stimmt schon: „Die Koordinaten ändern sich.“ Allerdings bleibt unklar, ob zum Guten oder doch eher wieder zum Schlechten.

Infos

Helmut Böttiger: „Czernowitz – Stadt der Zeitenwenden“
Berenberg Verlag, Berlin 2023
88 S., 22,00 Euro