Noch ist Olaf Scholz nicht Kanzler – doch er versucht schon, wie einer zu reden. Beim Landesparteitag der Brandenburger SPD schwärmte Scholz ungewohnt pathetisch von seinen „neuen Freunden“ bei Grünen und FDP. „Da wächst was zusammen, was zusammenpasst“, sagte der 63-Jährige und bediente sich damit indirekt bei SPD-Übervater Willy Brandt. Der ehemalige Kanzler hatte 1989 nach dem Fall der Berliner Mauer in Interviews den später berühmt gewordenen Satz gesagt: „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“
Einen großen Schritt in diese Richtung wollen die Ampel-Parteien in dieser Woche unternehmen. Wie aus Verhandlungskreisen zu hören ist, könnte am Dienstag von den Spitzen der drei Parteien ein fertiger Entwurf für einen Koalitionsvertrag präsentiert werden. Dazu könnte auch die Ressortverteilung gehören, also, welche Ministerien von welcher Partei besetzt werden. Übernimmt die FDP wieder das Gesundheitsministerien, wie zuletzt zwischen 2009 und 2013, als die Minister Philipp Rösler und Daniel Bahr hießen? Am Wochenende sorgte im Netz ein unautorisiertes Papier für Wirbel, in dem aufgelistet wird, welche Politiker was werden könnten. Einige Spekulationen liegen nahe, aber es bleiben Spekulationen. Scholz ist bekannt dafür, dass er bei Personalien seine Karten ganz eng vor der Brust hält. Vor der Brust hat er auch eine Menge Probleme, die ihn in den ersten 100 Tagen nach einer erfolgreichen Kanzlerwahl in Anspruch nehmen dürften. Eine Übersicht:
Corona – Wenn Scholz voraussichtlich am 7. oder 8. Dezember im Bundestag als neuer Kanzler und Nachfolger von Angela Merkel gewählt und vereidigt ist, wird er von der ersten Minute an im Krisenmodus sein. Selbst wenn die jetzt von Bund und Ländern eilig nachgeschärften Anti-Corona-Regeln greifen sollten, werden positive Effekte erst mit einer gewissen Verzögerung bei Infektionszahlen und Hospitalisierung durchschlagen. Die Booster-Impfungen von vielen Millionen dauern. Scholz könnte so in die für ihn unbequeme Lage kommen, als frisch gebackener Regierungschef sofort noch härtere Maßnahmen ankündigen zu müssen. Auf Druck der unionsgeführten Länder ist eine neue MPK-Runde für den 9. Dezember geplant. Spitzt sich die Corona-Lage bis dahin weiter dramatisch zu, könnte Scholz gezwungen sein, ausgeweitete Impfpflichten oder Teil-Lockdowns zu rechtfertigen.
EU-Asylpolitik voranbringen
Finanzen – Beim Geld hört bekanntlich die Freundschaft auf – bei der Priorisierung teurer Koalitionsvorhaben könnte es Knatsch zwischen den Parteien geben, der Scholz’ Start ins Amt belasten würde. Die jüngste Steuerschätzung hat dem Bündnis zwar unverhofft neue Spielräume eröffnet. Dennoch würden die Bäume nicht in den Himmel wachsen, warnte Noch-Finanzminister Scholz seine Koalitionspartner in spe. Auch FDP-Chef Christian Lindner – gesetzt als künftiger Bundesfinanzminister und Vizekanzler – machte jetzt klar, dass bei der umstrittenen Finanzierung der Ampel-Vorhaben Prioritäten gesetzt werden müssten. Die Haushaltsplanung der scheidenden Großen Koalition mit 100 Milliarden Euro Neuverschuldung sei „auskömmlich“, sagte Lindner der Süddeutschen Zeitung. Es müsse aber eine zeitliche Reihenfolge geben. „Was von den vielen wünschenswerten Vorhaben kommt wann?“
Flüchtlinge – Ein Kanzler Scholz wird in der europäischen Flüchtlings- und Migrationspolitik sofort gefordert sein. Zweimal telefonierte Merkel bereits wegen der Flüchtlingskrise an der polnisch-belarussischen Grenze mit dem Minsker Machthaber Alexander Lukaschenko. Die Grünen kritisierten scharf, Merkel werte damit einen vom Westen nicht anerkannten Diktator auf. Wie wird es Scholz halten? Merkel biss sich in der Asylpolitik die Zähne an Polen und Ungarn aus. Die SPD-Anhängerschaft war nach 2015 in der Flüchtlingsfrage tief gespalten. Juso-Chefin Jessica Rosenthal rief Deutschland und die EU auf, in Belarus festsitzende Flüchtlinge aufzunehmen. Sie erwartet, dass die künftige Ampel-Bundesregierung in dieser Frage sofort handelt. Sagt Scholz bald wie Merkel „Wir schaffen das“?
Es drohen Atomstromimporte
Klima – Scholz hat im Wahlkampf beim Klimaschutz große Reformen versprochen. Bereits im ersten Regierungsjahr soll die Energiewende einen Booster erhalten. Massive Zweifel sind angebracht. Tausende Kilometer Stromnetz müssen gebaut oder optimiert werden. Ein vorgezogener Kohleausstieg würde viele Milliarden zusätzlich kosten. Bei Windflaute und ohne Atommeiler (2022 ist Schluss) drohen Atomstromimporte aus Frankreich und Belgien. Die Klimapolitik dürfte für den selbst ernannten „Klimakanzler“ und die Grünen alles andere als ein Selbstläufer werden.
SPD – Seit dem erfolgreichen Wahlkampf schnurrt die SPD wie ein sattes Kätzchen um die Beine des kommenden Kanzlers. Das wird nicht immer so bleiben. In seiner Zeit als Hamburger Bürgermeister war Scholz bekannt für knallharte Führung. Wo endet die Leidensfähigkeit der starken Jusos in der Bundestagsfraktion? Auch die designierte neue SPD-Doppelspitze aus Saskia Esken und Lars Klingbeil dürfte Scholz beizeiten punktuell dazwischen grätschen – allein um zu beweisen, dass die Partei mehr als ein Kanzlerwahlverein ist.
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