Der Puls rast, die Nervosität steigt. Philippe Thelen ist aufgeregt. Doch es ist nicht das Lampenfieber vor dem Auftritt, das dem Schauspieler zusetzt. Es ist der SC Freiburg. Thelen ist Fußballfan und ein bekennender Anhänger des badischen Fußballvereins. „Ich bin verrückt danach“, gesteht er schmunzelnd im Interview zwischen den Proben. „Es kann schon mal vorkommen, dass ich vor einem Spieltag nicht gut schlafen kann. Aber es ist eine positive Aufregung.“ So wie jetzt vor dem Beginn der neuen Bundesligasaison.
Einst war der 36-jährige Luxemburger selbst ein aktiver Fußballspieler. Doch eine Verletzung beendete seine Ambitionen als Kicker. Seine Leidenschaft gilt vor allem den Breisgau-Brasilianern. Angefangen hat es während seines Studiums in Freiburg. „Damals pilgerte ich mit Freunden zu den Spielen des Sportclubs“, erzählt er. „Seit ich nicht mehr dort wohne, ist es nur noch selten. Aber ich verfolge, so oft es geht, die SC-Spiele. Am liebsten in einer Kneipe – unter Leuten, mit lautem Kommentator, kühlem Bier und – natürlich im Freiburg-Trikot.“ Zwischen Proben und Auftritten kann es auch vorkommen, dass er sich im Verborgenen per Smartphone über die Spielstände informiert oder sich mit Kollegen austauscht, die auch im Fußballfieber sind.
Zur Passion gehört auch die Schattenseite – die Niedergeschlagenheit und tiefe Trauer nach einem verlorenen Spiel. „Dann ist es besser, dass mich niemand anruft, mindestens eine halbe Stunde“, sagt Thelen lachend. „Wie etwa nach der Niederlage im Pokalendspiel gegen Leipzig, als ich ein paar Tränen vergoss“, erinnert er sich, „oder nach dem Heimspiel gegen Frankfurt, als wir kurz vor dem Einzug in die Champions League standen – und verloren.“
Von Ball- und Bühnenzauber
Fußballspiele können tragisch enden, weiß der eingefleischte Fan. Aber das ist nicht das Einzige, was den Sport mit dem Theater verbindet. Philippe Thelen zieht einen naheliegenden Vergleich: „Beides ist Mannschaftssport, ein Zusammenspiel. Ohne die Mannschaft bist du nichts, kannst du nichts erreichen, kein Tor schießen und nicht gewinnen. Als Team willst du das Bestmögliche herausholen und das Publikum verzaubern.“ Eine Ballstafette wie beim Tiki-Taka, aber auch das mutige Hineingrätschen – vom derben Handwerk bis zur hohen Kunst wird vieles geboten. Ein Pass in die Tiefe des Raumes oder das Dribbling eines Ballzauberers und dabei den Überblick auf das Spielgeschehen behalten, Antizipieren und das Spiel „lesen“ können. Ähnlich sei es für den Schauspieler mit seinem Text, erklärt Thelen. Er lernt den Text, probt und spielt immer wieder – und vor ihm entfaltet sich die Unendlichkeit dessen, „was du mit einem Text alles machen kannst“. Und dann dieser tolle Rückhalt von den Mitspielern auf dem Feld oder von den anderen Schauspielern auf der Bühne, fügt er hinzu.
Dass die Mannschaft und das Ensemble im Vordergrund stehen und nicht der Solist, stellten auch der Fußballtrainer und frühere Spieler Felix Magath und Burkhard C. Kosminski, Intendant des Stuttgarter Schauspiels, bei ihrem Talk in der letzten Spielzeit fest. „Das Zusammenspiel ist wichtiger als das Toreschießen“, sagte Magath, der nicht zuletzt durch sein Traumtor im Europapokalfinale von 1983 gegen Juventus und als Coach wegen seiner harten Trainingseinheiten berühmt wurde.
„Theater muss wie Fußball sein“, hat Bertolt Brecht angeblich gesagt. Darauf spielte der Dramatiker und Fußballfan Moritz Rinke in einem Interview an. Er sprach von einer großen Sehnsucht der Theater nach dem Durchbrechen der „vierten Wand“, der Trennung von Akteuren und Publikum. Allerdings sei auch darauf verwiesen, dass „jeder Hamlet, jede Kleist- oder Büchner-Inszenierung nach vermutlich ähnlichen Verabredungen läuft, wenn sie geprobt ist“. Zwar könne man auch den Fußball planen, wie es mancher Trainer gerne hätte. Aber letztlich komme auf dem Spielfeld das Schicksal und der Zufall dazu. „Das macht das Spiel so einzigartig“, so Rinke. „Ein wundervolles Spiel.“
Von Ästhetik und Gesellschaftskritik
Unlängst gastierte der FC Bologna beim VfB Stuttgart beim Freundschaftsspiel zweier Pokalsieger. Heute ist fast in Vergessenheit geraten, dass der vor 50 Jahren ermordete Dichter und Filmemacher Pier Paolo Pasolini passionierter Anhänger der „Rossoblu“ war, so wie die deutschen Rapper der Fantastischen Vier und der Sänger Cro bekennende VfB-Fans sind. Pasolini spielte selbst und verließ wutentbrannt das Feld, nachdem seine 120er (nach seinem Film „Die 120 Tage von Sodom“) gegen Bernardo Bertoluccis 1900 (nach dessen Epos „1900“) haushoch verloren hatten.
Für Pasolini war der Fußball eine Frage der Ästhetik und zugleich Grundlage für seine Gesellschaftskritik – an der Kommerzialisierung und an der „hohlen Rhetorik“ der Sportereignisse. Der Journalist und Literaturwissenschaftler Valerio Curcio schreibt in „Il calcio secondo Pasolini“ (2018), dass Fußball für diesen „eine Art von universeller Sprache, die es ermöglicht, mit den Füßen und einem Ball zu kommunizieren“, sei. Fußball sei das „letzte sakrale Schauspiel unserer Zeit“. Er habe sogar „den Platz des Theaters eingenommen“. Davon kann sich mancher „Ungläubige“ überzeugen, der in einem Stadion den Ritualen der Ultras folgt oder einer Choreografie der Fans beiwohnt.
Der am 9. August vor 50 Jahren verstorbene große Komponist und Pianist Dmitri Dmitrijewitsch Schostakowitsch war sich dieser „besonderen Art von Euphorie“ ebenfalls bewusst. Er war unzählige Male im Petrowski-Stadion, um mit seinem Lieblingsclub Zenit Leningrad zu fiebern. In ein Notizbuch trug er akribisch Spielergebnisse, Torschützen, Aufstellungen und Tabellen ein. Fußball war mehr als sein Hobby. Schostakowitsch schrieb Fußballreportagen. Während er über die Politik schwieg, weil er in der Stalin-Zeit in Ungnade gefallen war, war das Stadion „der einzige Ort, wo man die Wahrheit über das sagen kann, was man sieht“. Der Fußball bot ihm eine Möglichkeit der Flucht aus dem Alltag. Er besuchte jedes Heimspiel und fuhr manchmal sogar zu Auswärtsspielen bis nach Taschkent. Er verließ Proben früher, wenn ein Spiel stattfand. Zwischen Partituren fanden sich Fußballergebnisse.
In beiden Bereichen gibt es sowohl Regeln als auch Inspiration – das ist ein Ursprung kreativer Arbeit
Die ukrainisch-deutsche Schriftstellerin Katja Petrowskaja wies darauf hin, dass Schostakowitsch, der sogar die Musik für ein Fußballballett schrieb, auf fast allen Bildern ernst wirkte, nur auf denen aus dem Stadion war er fröhlich. Über die Parallelen zwischen Fußball und Musik schreibt sie: „In beiden Bereichen gibt es sowohl Regeln als auch Inspiration – das ist ein Ursprung kreativer Arbeit.“ Für die Parallelen von Fußball, Literatur, Musik und Theater gibt es unzählige Beispiele. Der aus Argentinien stammende Dirigent und Pianist Daniel Barenboim erkennt bei Fußballgöttern wie Maradona, Messi und Pelé einen „orchestralen Sinn“. Über die schöpferischen Fähigkeiten Maradonas meinte er: „Er schrieb sich seine Partitur selbst.“ Der berühmteste Theaterautor Brasiliens, Nelson Rodrigues, war zuerst Sportreporter und schrieb vor allem über Fußball. Eines seiner berühmten Zitate lautet: „Im Fußball ist der Blinde derjenige, der nichts anderes als den Ball sieht.“
Dass Frauen lange Zeit im Fußball eine verkannte Rolle spielten, zeigte die Theaterregisseurin Christine Muller in der vergangenen Spielzeit mit ihrer Inszenierung von Stefano Massinis „Ladies Football Club“ im Théâtre du Centaure über einen Gründungsmythos des Frauenfußballs. Die in dem Stück brillierende Eugénie Anselin, die elf Spielerinnen verkörpert, bekennt sich als Fan zu Paris Saint-Germain und Real Madrid. Ihre beiden Clubs sind schon in die Saison gestartet, haben jeweils 1:0 gewonnen. Dagegen beginnt die deutsche Bundesliga erst heute. Für den SC Freiburg und Philippe Thelen fängt der spielerische Ernst des Lebens morgen an. Im ersten Spiel trifft sein Team auf Augsburg. Die Nervosität steigt, das Fieber auch. Das Fußballfieber.
De Maart

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