In London versammelte Premierminister Keir Starmer zu Wochenbeginn die Macher des Dramas sowie Fachleute um sich. Das Land müsse über das Problem zunehmender Gewalt, vor allem gegen Mädchen und Frauen, debattieren, sagte der Labour-Politiker. „Es gibt keine einzelne Maßnahme, die man beschließen könnte. Das Problem ist viel größer.“
Aufgeschreckt durch eine Reihe von Gewalttaten von Kindern und Jugendlichen an Gleichaltrigen haben die Autoren Jack Thorne und Stephen Graham, der auch den Vater des Täters spielt, ein eindringliches Werk geschaffen. Die Polizeiarbeit von Inspektor Luke Bascombe (Ashley Walters) und seiner von Faye Marsay dargestellten Kollegin besteht kaum darin, den Mörder von Katie zu finden: Schon am Ende der ersten Folge steht dieser fest, die Beweislage gegen Jamie (Owen Cooper) ist eindeutig. Vielmehr konzentriert sich das Drama auf die Suche nach einem Motiv, auf das Selbstbild heranwachsender Kinder, auf die Schuldgefühle der Erwachsenen.
Es gibt keine einzelne Maßnahme, die man beschließen könnte. Das Problem ist viel größer.
Wie sehr „Adolescence“ einen Nerv trifft, lässt sich an den Zahlen ablesen. Zum ersten Mal im Königreich lag ein Streamingdienst bei den wöchentlichen Zuschauer-Zahlen vor allen Talkshows und Soaps der terrestrischen Anbieter. Bis Anfang dieser Woche wurden die vier Folgen bereits mehr als 70 Millionen Mal abgerufen. Die Eindringlichkeit bestehe darin, glaubt Premier Starmer, dass das Abgleiten in Fantasiewelten und Gewaltkriminalität auch in ganz normalen Familien möglich sei: „Und es hat nicht notwendigerweise mit nachlässigen Eltern oder schlechten Schulen zu tun.“
Der Satz stimmt natürlich, wenn die Reaktion der Briten auf das Drama auch keineswegs schwierige Fragen so geschickt vermeidet wie der Politiker Starmer: Wie kommt es eigentlich, dass 13-Jährige in einer dunklen Nacht nach 21 Uhr unbeaufsichtigt durch die Gegend stromern? Dass Jamies Eltern eingestandenermaßen keine Ahnung haben, in welche Sphären ihr Sohn mittels seines im Schlafzimmer stehenden Computers vordringt, oft bis weit nach Mitternacht?
Verheerender Einfluss von Smartphones
Auch zeigt „Adolescence“ drastisch den verheerenden Einfluss von Smartphones auf die Disziplin an der Schule der beiden Kinder – und entlarvt damit indirekt den Premierminister als Heuchler. Eine der angeblich nicht möglichen „einzelnen Maßnahmen“, die Starmer erst kürzlich im Parlament verwarf, wäre nämlich das generelle Verbot von Telefonen in allen Schulen für unter 16-Jährige. Dabei machen Londoner Sekundarschulen damit schon seit mehr als zehn Jahren hervorragende Erfahrungen.
Umstritten bleibt dieser Tage auch, wer bei der von Starmer angeregten gesellschaftlichen Debatte mit wem worüber sprechen solle. Die Firma Netflix stellt ihr überaus erfolgreiches Produkt den Sekundarschulen auf der Insel zur Verfügung, was Starmer sowie der Schulleiterverband ASCL ausdrücklich unterstützen: Notwendig sei nämlich eine strukturierte Diskussion unter den Betroffenen, also den Jugendlichen, selbst.
Das sei natürlich korrekt, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Sophie King-Hill, „Adolescence“ dafür aber der falsche Weg: Schon bisher gebe es im einschlägigen Unterrichtsfach RSHE reichlich Materialien. RSHE steht für relationships, sex and health education, soll Schülern also beibringen, wie man „gesunde, respektvolle Beziehungen“ führt und mit Drogen, Alkohol und der eigenen Sexualität verantwortungsvoll umgeht. Das Netflix-Produkt laufe hingegen Gefahr, Jungen zu dämonisieren, glaubt die Dozentin der Uni Birmingham, und außerdem: „Es ist erst ab 15 freigegeben. Das ist viel zu spät.“
Überforderte Erwachsenenwelt
Tatsächlich erhielt der Vierteiler vom einschlägigen Fachgremium die Einstufung 15, darf demzufolge Kindern im Alter der Protagonisten gar nicht gezeigt werden – noch so eine Kluft zwischen der Welt der Heranwachsenden, die via Internet auch scheußlichste Horror- und Pornofilme zu sehen bekommen, und der wohlmeinenden, aber komplett überforderten Erwachsenenwelt.
Längst haben Fachleute wie der Psychologe und Bestseller-Autor Jonathan Haidt („Generation Angst“) auf den Zusammenhang zwischen Smartphones und der Epidemie psychischer Erkrankungen bei Halbwüchsigen hingewiesen, will Australien Kindern und Jugendlichen den Zugang zu sozialen Medien wie TikTok oder Snapchat verwehren. Die Labour-Regierung biedert sich lieber bei US-Präsident Donald Trump und dessen Geldgebern und Unterstützern wie Elon Musk (X) oder Mark Zuckerberg (Facebook) an.
Einigkeit immerhin besteht bei den Fachleuten darüber, Eltern müssten mit der jüngeren Generation im Gespräch bleiben. Eine Schlüsselszene von „Adolescence“ zeigt den Ermittlungsbeamten Luke Bascombe im Gespräch – „dem längsten seit langem“, wie er später einer Kollegin sagt – mit seinem Sohn: Geduldig übersetzt Adam dem verwirrten Kriminaler bestimmte Emojis aus der Jugendsprache ins Englische. Bascombe bedankt sich und lädt zum gemeinsamen Fastfood ein – vielleicht der Beginn eines dauerhaften Dialogs.
De Maart
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