ForumWeltgeschichte ohne Moral: Weshalb man Papst Franziskus zur Ukraine zuhören sollte

Forum / Weltgeschichte ohne Moral: Weshalb man Papst Franziskus zur Ukraine zuhören sollte
  Foto: AP/Gregorio Borgia

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Es ist positiv, wenn die Menschen sich moralische Ziele setzen. Leider gerät die Welt damit nicht zu einem Paradies der Moralität. Die eigenen Werte sind nicht immer deckungsgleich mit den Werten der anderen. Ein Hungernder setzt andere Prioritäten als ein Satter. Politik ist zumeist das Produkt der Geografie. Die Welt sieht anders aus, wenn man sie von Afrika oder Asien aus betrachtet, als von Europa oder Nordamerika.

Es gibt besonders in Europa zunehmend „Dissonanzen“ zwischen dem „Erfahrungsraum“ und dem „Erwartungshorizont“. Christopher Clark zufolge versagt immer öfter „die Autorität der Vergangenheit als Hort der Weisheit und Lehre für die Gegenwart“. Umso erstaunlicher ist, wie blindwütig gerade die selbstüberzeugten Europäer auf angebliche Verstöße gegenüber ihren moralischen Werten reagieren.

Das musste dieser Tage selbst Papst Franziskus erfahren. Der in einem Interview die Ukraine aufforderte, „den Mut zur weißen Flagge und zu Verhandlungen zu haben“. Der Papst fragte sich: „Wie viele Tote soll es denn noch geben?“, ehe es zu Verhandlungen kommt. „Schäme Dich nicht zu verhandeln, ehe es noch schlimmer geht“.

Der Papst legitimiere „das Recht des Stärkeren“, hieß es entrüstet aus Politik und Medien. Er verweigere der Ukraine ihr „moralisches Recht“, die von Putin besetzten Gebiete zurückzugewinnen. Ganz perfide Kommentatoren stichelten, selbst Papst Pius XII. hätte im Zweiten Weltkrieg die Alliierten nicht dazu aufgerufen, vor Hitler „den Mut zur weißen Flagge“ zu zeigen.

Politik ohne Moral

Gerade der Zweite Weltkrieg zeigte, dass Politik und Moral sich Fremdwörter sind. Es waren die „Appeasement“-Politiker Chamberlain und Daladier, die mit Hitler in München einen falschen Frieden schlossen. Dem nicht nur Böhmen und Mähren zum Opfer fallen sollten, sondern die gesamte Tschechoslowakei. Und Hitler in seiner Ostpolitik bekräftigte. Deshalb kam es zum „unmoralischen“ Hitler-Stalin-Pakt zwischen zwei offiziell todfeindlichen Ideologien. Den Hitler zum Einfall in Polen bewog. Wobei die Sowjetunion als Gegenleistung sich an polnischem Territorium, im Baltikum und in Finnland bedienen konnte.

Nachdem Hitler in einem Blitzkrieg Franzosen und Briten auf dem Kontinent geschlagen hatte, musste Churchill mit „Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß“ den heroischen Widerstand Großbritanniens organisieren. Das Kriegsglück wechselte erst die Seiten, nachdem Hitlers Überfall auf die Sowjetunion in Stalingrad gescheitert war. Sowie die USA nach Pearl Harbour in den Krieg eintraten. Der gegen Nazi-Deutschland nur gewonnen wurde, weil die Demokraten Churchill und Roosevelt eine nicht sehr moralische Allianz mit dem Massenmörder Stalin eingingen. Dessen Rote Armee die Hauptlast des Niederringens Hitlers trug. Während die USA ihre unschlagbare wirtschaftliche Kraft einbrachten.

Kriege ohne Siege

Doch seit dem Zweiten Weltkrieg und dem atomaren Gleichgewicht des Schreckens gewannen selbst Großmächte keine Kriege mehr. Der Korea-Krieg endete 1953 mit einem vom damaligen südkoreanischen Staatschef als „unmoralisch“ abgelehnten Waffenstillstand. Der noch immer andauert.

Die Sowjetunion zog sich aus Afghanistan zurück. Die USA aus Vietnam, Irak und Afghanistan. Der Krieg zwischen Irak und Iran endete ohne Gewinner. Dutzende Bürgerkriege bewirkten manchmal die Unabhängigkeit einer früheren Kolonie. Begründeten aber selten eine moralisch einwandfreie Staatsstruktur. Wovon Wirren wie Putsche in vielen Teilen des globalen Südens zeugen.

Wer sich deshalb auf dem hohen Ross der Moralität über das Plädoyer von Papst Franziskus für Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau ereifert, verkennt die Grammatik der Geschichte. Die immer von den Stärkeren bestimmt wurde. Das mag man als „Werte“-Verstoß bedauern, gehört leider zur „realen Politik“.

Die Ukraine wird ihre Kriegsziele nicht erreichen. Putin hat sein Kriegsziel, eine Gleichschaltung der Ukraine, schon verloren. Dennoch verfügt das viel größere Russland über mehr Menschen-„Material“ und mehr Ressourcen als die Ukraine. Ohnehin total abhängig von den Hilfen der USA, der NATO, der EU. Wobei die Solidarität mit der Ukraine bröckelt, nicht zuletzt in den USA. Schon vor Trump.

Schweigen der Waffen

Jeder Krieg endet irgendwann. Selbst wenn es nur zu einem über 70 Jahre dauerndem Waffenstillstand kommt, wie in Korea. Nach zwei Jahren Krieg zwischen Russland und der Ukraine wird immer offensichtlicher, dass die Ukraine selbst mit deutschen Taurus-Raketen zwar den Russen noch größere Verluste zufügen, doch Putin nicht zur Kapitulation zwingen könnte. Es käme bloß zu noch blutigeren Vergeltungsschlägen.

Ein Einstieg in Verhandlungen bedeutet keine Kapitulation der Ukraine. Solche Verhandlungen wären ohnehin kompliziert und langwierig. In Korea waren 575 Verhandlungsrunden notwendig, ehe es zum Waffenstillstand kam.

Nach Putins erwarteter Wiederwahl wird dieser mit Sicherheit auf eine Rückkehr seines „Bruders im Geiste“, Donald Trump, setzen. Eventuelle Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau können auch nur zu einem „annehmbaren“ Resultat führen, falls Drittstaaten wie China oder die Türkei Einfluss auf Putin nehmen würden. Oder eine Organisation wie die NATO über ihren Schatten springt und eine neue Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa durchsetzt. Selbst mit eventuellen Grenzkorrekturen.

Auch die Vermittlungsversuche der Afrikanischen Union sind nicht chancenlos. Putin sorgt sich mehr um sein Renommee im globalen Süden als um die definitiv verlorene Achtung der Europäer.

Der Papst ist offensichtlich kein Diplomat. Sonst hätte er sich obskurer ausgedrückt. Doch spricht aus ihm eine Menschlichkeit, die vielleicht gerade bei religiösen Führern ungewohnt klingt. Wenn man sich anhört, was der orthodoxe Patriarch in Moskau an „Weisheiten“ verzapft, die Mullahs in Iran und anderswo, oder der Ober-Rabbiner in Jerusalem, steht mir als Atheist Papst Franziskus viel näher.

Der Aufruf des Papstes mag verpuffen. Die Moralapostel werden sich noch lange selbst belügen. Dennoch bleiben Kriege ohne moralischen Wert. Der Erhalt von menschlichem Leben ist dagegen ein moralisch höher einzuschätzender Wert, als die meisten politischen Ziele. In der Ukraine, in Gaza, im Sudan und in anderen Teilen der Welt.

Schon George Orwell befand: „Kriegshetze basiert zum großen Teil auf persönlicher Gefahrlosigkeit.“ Es „wird viel mit Feuer gespielt von Leuten, die nicht einmal wissen, dass Feuer brennt“!

Robert Goebbels ist ein ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter
Robert Goebbels ist ein ehemaliger LSAP-Minister und Europaabgeordneter Foto: Editpress/Didier Sylvestre