Es ist einer der größten Prozesse wegen Kindesmissbrauch in Frankreich: Am Montag begann das Verfahren gegen den ehemaligen Chirurgen Joël Le Scouranec. Er muss sich wegen sexualisierter Übergriffe auf rund 300 Kinder und wegen des Besitzes von pädophilem Material vor Gericht verantworten. Er soll die Taten bereits weitgehend gestanden haben. Die Vorfälle könnten bis in die 1980er Jahre zurückreichen. Der 74-Jährige, der bereits wegen vergleichbarer Fälle eine 15-jährige Haftstrafe absitzt, soll sich teils an narkotisierten Opfern vergangen haben.
Die Nachrichtenagentur AFP zieht deshalb zu Recht Parallelen zur Causa Gisèle Pelicot: Sie wurde unter Betäubung missbraucht – von ihrem eigenen Ehemann Dominique und Klienten, die für die Straftat Geld bezahlten. „Während es im Pelicot-Prozess ein Opfer und 51 Täter gab, sind es nun ein Täter und knapp 300 Opfer“, merkt die AFP an. Fragwürdig, ob es diese Differenzierung braucht. Wichtiger sind die Gemeinsamkeiten und was sie über unsere Gesellschaft aussagen.
Pelicot und Le Scouranec nutzten ihre familiäre oder berufliche Machtposition und das Vertrauen der Opfer aus. Le Scouranec konnte trotz krimineller Vorgeschichte ungeniert seiner Karriere nachgehen, was ein zweites Ermittlungsverfahren wegen Behördenversagen mit sich bringt. Ungewöhnlich ist das Vorgehen der beiden nicht: Die Ausbeutung verletzlicher Personen ist in vielen Lebensbereichen an der Tagesordnung. Sie ist das Fundament eines Wertesystems, in dem Besitz und Macht das höchste Gut sind.
Gleichzeitig offenbaren die Skandale akuten Gesprächsbedarf. Serienvergewaltigungen existieren seit Jahrhunderten. Auch auf struktureller Ebene, wie die Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche zeigen. Dass solche Taten möglich sind, ist eng mit Tabus verknüpft. Wann spricht die Allgemeinheit offen über sexualisierte Gewaltfantasien oder Pädophilie? Fast nie. Wer teilt gerne mit, in dem Zusammenhang an psychischen Problemen zu leiden? Die wenigsten. Wie oft zeigen Opfer sexualisierter Gewalt die Tatpersonen an? Zu selten. Und warum ist dem so? Aus Scham. Ein Gefühl, das Gefahren birgt.
So können wir Pädophilie im Alltag totschweigen, doch das schafft das Problem nicht aus der Welt. Gleichgesinnte vernetzen sich in Internetforen und Chatgruppen – so wie Le Scouranec, der bereits 2004 für Aktivitäten auf Websites für Pädophile verurteilt wurde. Die sehenswerte Arte-Doku „Kinderschänder im Visier“ hält fest: Vor drei Jahren zirkulierten 88 Millionen Aufnahmen von Kindesmissbrauch. Jede Sekunde werden mindestens zwei pädophile Inhalte im Netz geteilt, darunter Aufnahmen von Neugeborenen. Auf den Philippinen verdienen Familien ihren Lebensunterhalt dadurch, dass sie die eigenen Kinder prostituieren. Die größte Nachfrage kommt aus dem Westen.
Zahlreiche Behörden gehen dagegen vor. Trotzdem ist es wichtig, die verschiedensten Facetten dieser Problematik und sexualisierter Gewalt im Allgemeinen zu beleuchten. Wir müssen Machtstrukturen und Normen durchbrechen, die Missbrauch begünstigen, und potenzielle Straffällige abholen, bevor sie zur Tat schreiten. Dies geht Hand in Hand mit der bedingungslosen Unterstützung der Überlebenden sexualisierter Gewalt. Ihre Namen, die Zahlen dürfen nicht der Effekthascherei dienen. Ihre Geschichten nicht zugunsten der Verurteilten verdreht werden. Wir alle tragen Verantwortung dafür, dass all dies nicht länger toleriert wird. Misslingt uns das, haben wir jeden Grund zu Scham, denn „la honte doit changer de camp“.
De Maart

Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können