GroßbritannienWarum Premier Johnson die britischen Versorgungsmängel der heimischen Wirtschaft zur Last legt

Großbritannien / Warum Premier Johnson die britischen Versorgungsmängel der heimischen Wirtschaft zur Last legt
Mittlerweile scheint sich die Lage an den britischen Tankstellen wieder zu normalisieren Foto: AFP/Adrian Dennis

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Nach einer Reihe anderer Versorgungsmängel hat in den vergangenen zwei Wochen eine Benzinkrise Großbritannien erschüttert. Opposition und Fachleute machten den harten Brexit der konservativen Regierung als eine der Hauptursachen aus. Hingegen lastet Premierminister Boris Johnson die Probleme der heimischen Wirtschaft an: Diese habe sich zu sehr auf billige Arbeitskräfte aus der EU gestützt. Sein Land sei nach einer Phase von „Belastungen und Anstrengungen“ auf dem Weg, das „kaputte Wirtschaftsmodell mit niedrigen Löhnen, niedrigem Wachstum und niedriger Produktivität“ hinter sich zu lassen.

Ist die Benzinkrise überwunden? Die Lage hat sich deutlich entspannt. Schon zu Monatsbeginn war die erste Phase der Panik überwunden, als in manchen Regionen des Landes 90 Prozent der insgesamt rund 8.500 Tankstellen ohne Kraftstoff blieben und an den noch geöffneten Zapfsäulen gelegentlich Prügeleien um einige Liter Benzin ausbrachen. Der Verkauf von Benzinkanistern schnellte um 1.600 Prozent in die Höhe.

Während am vorvergangenen Wochenende im Großraum London weiterhin Knappheit herrschte, bestand in den mittel- und nordenglischen Metropolen Birmingham, Sheffield und Manchester kein Mangel. Im Südosten des Landes haben zuletzt 150 Soldaten Tanklastzüge chauffiert; am Freitag gab es nach Auskunft des Tankstellen-Verbandes noch bei 16 Prozent der Mitglieder Fehlbestand.

Welche Engpässe gibt es aktuell? Der Notfallplan der Mineralölfirma BP, dessen Veröffentlichung die Krise auslöste, sagt mindestens übergangsweise Engpässe auch für die nächsten Monate vorher. Hauptursache ist der Mangel an qualifizierten Lastkraftfahrern: Zur Aufrechterhaltung der Versorgung der Brexit-Insel sind Schätzungen des Branchenverbandes RHA rund 600.000 Lkw-Fahrer nötig, derzeit aber nur eine halbe Million im Einsatz. Dementsprechend klagen auch andere Branchen schon seit Wochen über Schwierigkeiten. In den Supermarkt-Regalen fehlen mal Fertiggerichte, mal frisches Gemüse wie Gurken, gelegentlich sogar Heftpflaster und haltbare Pasta.

Der Geflügelzüchterverband warnte davor, zu Weihnachten könnten die hochbegehrten Truthähne knapp werden. Prompt meldeten Supermärkte wie Tesco, Aldi und Iceland einen Run auf tiefgefrorene Vögel. Bei Waitrose haben schon jetzt doppelt so viele Kunden eine Lebensmittellieferung für die zweite Dezemberhälfte gebucht wie in normalen Jahren. Ob denn zum Fest eine ausreichende Zahl der berühmten Bonbonbüchsen „Quality Street“ zur Verfügung stehen werde, wurde Nestlé-Chef Mark Schneider in der BBC gefragt: „Wir arbeiten hart daran“, lautete die Antwort.

Worauf sind die Schwierigkeiten zurückzuführen? In der Covid-Pandemie, als die Nachfrage zeitweilig zusammenbrach, haben viele ältere Lastkraftfahrer ihren anstrengenden und schlecht bezahlten Beruf verlassen. Der harte Brexit tat ein Übriges: 40-Tonnerpiloten vom Kontinent sehen sich seit Jahresbeginn mit erheblichen bürokratischen Hindernissen konfrontiert, die vielfältigen Zollvorschriften und Gebühren machen manche Touren nicht mehr lukrativ genug.

Die Lkw-Lobby RHA lag dem Verkehrsministerium seit Monaten mit Vorschlägen zur Linderung der Krise in den Ohren: eine größere Anzahl von Arbeitsvisa für EU-Bürger; mehr Personal für die Führerscheinbehörde, um rasch die in der Pandemie verschobenen Prüfungen junger Anwärter nachzuholen; schließlich ein Appell an qualifizierte Kraftfahrer, die aus Alters- oder anderen Gründen den Beruf verlassen hatten, mindestens übergangsweise auszuhelfen.

Firmen sollen höhere Löhne zahlen

Monatelang geschah nichts. Erst als sich die Situation Ende vergangenen Monats zuspitzte, befolgte das Ministerium die Vorschläge des Fachverbands, allerdings mit begrenztem Erfolg. Für Heiterkeit sorgte vor allem die Vorstellung, Tausende auf der Insel lebende Deutsche könnten sich ans Steuer von 7,5-Tonnern setzen, wie es der Führerschein der Klasse 3 bis Ende 1998 erlaubte. „Schöne Idee“, teilte einer der Angeschriebenen auf Twitter mit, „aber ich bleibe doch lieber in meinem Job als Investmentbanker.“

Auch in anderen Branchen suchen Unternehmer händeringend nach qualifiziertem Personal. Wenigstens übergangsweise müsse die Regierung mehr Arbeitsvisa an EU-Bürger ausgeben, forderten vergangene Woche prominente Restaurant- und Hotelchefs. Kommt nicht infrage, antwortete Brexit-Vormann Boris Johnson: Allzu lang hätten Unternehmen auf billige Arbeitskräfte vom Kontinent gesetzt, ja, sie seien geradezu süchtig danach. Mit diesem „kaputten Wirtschaftsmodell“ müsse nun Schluss sein. Wenn die Firmen höhere Löhne zahlen würden, werde der Mangel rasch ein Ende haben, so der Premier.

Was halten Praktiker und Fachleute von Johnsons Thesen? Gegen Johnsons Vorwürfe wandte sich der Chef der Bekleidungskette Next: Er rede keineswegs „unbegrenzter Einwanderung“ das Wort, sagte Lord Simon Wolfson der BBC. Iceland-Chef Richard Walker warnte den Premier davor, die Wirtschaft als „Watschenmann“ zu missbrauchen. Das Duo gehört zur kleinen Minderheit von Geschäftsleuten, die beim EU-Referendum 2016 für den Brexit warben. Damit fällt Johnsons Lieblingsargument unter den Tisch: Kritiker der Regierung seien ausschließlich jene EU-Freunde, die mit dem Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion unversöhnt bleiben.

Mangelnde berufliche Ausbildung und Produktivität

Unter Ökonomen gilt seit Jahrzehnten mangelnde berufliche Ausbildung und Produktivität als Hauptübel der britischen Volkswirtschaft. Bei der Produktivität hinkt das Königreich seit Jahren hinter den USA, Deutschland und Frankreich – allesamt Länder mit hoher Einwanderung – hinterher, liegt hingegen deutlich vor Japan mit seiner weitgehend homogenen Bevölkerung. Immigration und Produktivität hängen also nicht ursächlich zusammen.

Torsten Bell von der Resolution Foundation mahnt eine Regierungsstrategie für die Wirtschaft des Landes an: Die Reduzierung der Einwanderung könne höchstens ein kleiner Teil davon sein. Noch deutlicher positioniert sich Ökonomieprofessor Alan Manning von der London School of Economics (LSE). Die Probleme der britischen Wirtschaft hätten mit der Migration nur zu einem ganz kleinen Teil zu tun: „Solche flotten Sprüche helfen niemandem weiter.“ Das mag in der Ökonomie stimmen, trifft auf den Politiker Johnson hingegen weniger zu.

Welchen politischen Nutzen verspricht sich der Premierminister? Andere für eine krisenhafte Situation verantwortlich zu machen, lenkt von eigenen Versäumnissen ab. Die Benzin-Panikkäufe waren nicht zuletzt Folge der weit verbreiteten Zweifel an der Krisenkompetenz der Regierung.

Populist Johnson

Dass Johnson beim Stichwort Brexit allergisch reagiert, geht auf seine Erfahrung bei der jahrelangen Debatte über den harten oder weichen EU-Austritt zurück. Prominente Manager und Firmenchefs positionierten sich 2016 ganz überwiegend für den EU-Verbleib, argumentierten später für Großbritanniens Verbleib wenigstens im Binnenmarkt. War er als Londoner Bürgermeister noch als Propagandist der heimischen Unternehmen, nicht zuletzt der Finanzbranche, aufgetreten, ließ sich der zunehmend populistisch auftretende Politiker plötzlich zur Bemerkung „Fuck Business“ (etwa: ‚Scheiß auf die Wirtschaft‘) hinreißen.

Damit repräsentiert er viele seiner Anhänger. Das Brexit-Votum basierte nicht zuletzt auf dem Gefühl vieler Menschen aus den abgehängten Regionen des Landes, Londons Wirtschafts- und Politikelite nehme ihre Interessen nicht wahr. Das spiegelt sich in der konservativen Wählerschaft wider. Einer Studie des Thinktanks SMF zufolge traten vor fünf Jahren knapp die Hälfte (48 Prozent) dafür ein, Unternehmern möglichst freie Hand gegenüber ihrem Personal zu geben; inzwischen vertritt nur noch ein Viertel diese Meinung. Hingegen ist der Anteil jener, die sich um soziale Gerechtigkeit sorgen, von 15 auf 28 Prozent gestiegen.

Großbritannien fehlt es an hunderttausenden Lkw-Fahrern
Großbritannien fehlt es an hunderttausenden Lkw-Fahrern Foto: AFP/Tolga Akmen
J.C. Kemp
12. Oktober 2021 - 18.28

Die einzigen, dem er die Versorgungsengpässe anlasten könnte, sind seine Brexit-Mittäter. Aber das wird er natürlich nicht tun. Schuld haben die EU and alle Remoaner, das sind die Brexitgegner, die seine Politik nicht anhimmeln.

Grober J-P.
11. Oktober 2021 - 13.44

Billige Arbeitskräfte vom Kontinent, nach Großbritannien, ja warum sind die denn überhaupt gekommen? Überall die gleiche Leier, warum kommen "billige" Arbeitskräfte nach Luxemburg? Freund Gregory aus Manchester verzichtet jetzt auf eine Dauerkarte bei seinem ManU. Rente langt vorne und hinten nicht, wenn jetzt auch noch "teure" Arbeitskräfte von hier kommen, wird die Inflation noch stärker steigen. er hatte schon auf seinen täglichen Besuch bei Tante Emma um die Ecke verzichten müssen, die polnischen Hilfen sind ab, Tante Emma hat dicht gemacht.

Insterburg
11. Oktober 2021 - 13.02

12 Stromproduzenten sind schon bankrott durch hohe Gaspreise, weitere werden folgen. Andere Industrien habe gestern dem Minister mitgeteilt, dass in paar Tagen bei ihnen auch Produktionsstopp ist, da so keine Profite möglich sind. Da werden bald die Brexitränen rollen.