AnalyseWarum die Lage in der arabischen Welt so gefährlich ist

Analyse / Warum die Lage in der arabischen Welt so gefährlich ist
Die Huthi-Rebellen gehören zur pro-iranischen „Achse des Widerstands“ Foto: AFP/Mohammed Huwais

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Alte Machtkämpfe, Milizen und die ungelöste Palästina-Frage sind Faktoren, die einen Flächenbrand in der arabischen Welt begünstigen. Was sind die Kipppunkte?

Wenn irgendwo in der arabischen Welt Gewalt ausbricht, denken alle sofort an den möglichen Flächenbrand, der darauf folgen könnte. Denn jahrzehntelange Animositäten, Instabilität, eine Vielzahl von Milizen sowie die ungeklärte Palästina-Frage sind Faktoren, die dazu führen können, dass ein politischer Mord, ein Anschlag oder auch ein fehlgeleitetes Geschoss schnell verheerende Auswirkungen für die gesamte Region hat.

Seit der Nacht vom 13. auf den 14. April ist die Lage noch einmal deutlich gefährlicher geworden: Der Iran griff Israel mit Hunderten Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen erstmals direkt an, als Antwort auf einen Bombenangriff auf das iranische Konsulat in Damaskus. Lisa Musiol von der Denkfabrik International Crisis Group sagte unserer Redaktion: „Die bisher ungeschriebenen Regeln, die es durchaus gab, gelten nicht mehr. Im Moment definieren beide Seiten neu, wie weit sie gehen können. Das ist extrem gefährlich.“ Und obwohl ihren Worten nach keiner der Akteure in der Region will, dass dieser Konflikt außer Kontrolle gerät: „Alles ist möglich, wenn man nicht mehr voraussehen kann, was passiert, wenn die Lage unkalkulierbar wird.“ Der erste Schritt für eine Deeskalation in der Region sei ein Waffenstillstand in Gaza, sagte sie.

Kipp-Punkte

Tatsächlich gibt es in den arabischen Ländern, wo das Gros der Bevölkerung aufseiten der Palästinenser steht, diverse Kipp-Punkte, die zu weiteren Eskalationen führen können. Durch innere Unruhen und propalästinensische Proteste ist derzeit insbesondere Jordanien gefährdet. Islamisten nutzen das aus und machen Stimmung gegen das Königshaus. Das Land hat in der Nacht der iranischen Drohnenangriffe dabei geholfen, einige der Raketen, Marschflugkörper und Drohnen aus dem Iran und von dessen Verbündeten aus der Region abzufangen. Auch wenn die jordanische Führung sich um eine andere Erzählung bemüht, nämlich die, dass es dabei nur um den Schutz des eigenen Territoriums gegangen sei, wächst der Unmut in der Bevölkerung. Wie Königin Rania hat dort mehr als jeder Zweite palästinensische Wurzeln. Große Teile der Bevölkerung werfen König Abdullah II. vor, nichts für Gaza zu tun, aber alles für Israel. Der Ärger über den Herrscher ging sogar so weit, dass im Internet ein bearbeitetes Bild die Runde machte, das den König in israelischer Militäruniform zeigt.

Die bisher ungeschriebenen Regeln, die es durchaus gab, gelten nicht mehr. Im Moment definieren beide Seiten neu, wie weit sie gehen können. Das ist extrem gefährlich.

Lisa Musiol, International Crisis Group

Victor Tricaud vom Sicherheitsdienstleister Control Risks sieht zunächst zwar keine Hinweise darauf, dass es einen Zusammenbruch der staatlichen Ordnung geben könnte. Ein möglicher Kipp-Punkt wäre seiner Einschätzung nach aber, wenn Israel signalisieren würde, „dass es die Absicht hat, das Westjordanland und den Gazastreifen zu annektieren“ und gleichzeitig Proteste dagegen „von den jordanischen Behörden mit aller Härte unterdrückt werden“.

Ägypten, das mit mehr als 100 Millionen Menschen bevölkerungsreichste arabische Land, hat schon in den ersten Tagen des Gazakriegs deutlich gemacht, wo die roten Linien sind. So ließ Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi erkennen, dass eine Vertreibung der Palästinenser aus Gaza über die Grenze nach Ägypten den Friedensvertrag von 1979 gefährden könnte. Der Gazakrieg und seine Auswirkungen belasten Ägypten auch wirtschaftlich stark, zumal die Einnahmen aus dem Suezkanal wegen der Angriffe der Huthi-Milizen im Jemen auf Handelsschiffe eingebrochen sind. Viele Schiffe nehmen inzwischen lieber den Umweg um das Kap der Guten Hoffnung in Kauf.

„Achse des Widerstands“

Der Machtkampf zwischen dem schiitischen Iran und dem sunnitischen Saudi-Arabien hat die arabische Welt über Jahrzehnte geprägt, weil beide Staaten versucht haben, ihren Einfluss auf andere Länder auszuweiten. Vor dem Gazakrieg gab es eine Annäherung zwischen den beiden Ländern. Ebenso arbeitete man im Jemenkrieg an einem Friedensvertrag – der nun spätestens seit Beginn der Huthi-Angriffe auf Handelsschiffe auf Eis liegt. Der saudische De-facto-Herrscher und Kronprinz Mohammed bin Salman hat, anders als früher, inzwischen starkes Interesse an Stabilität in der Region, weil er sich seiner Reformagenda „Vision 2030“ zuwenden will, mit der das Land vom Erdöl unabhängiger und zum Wirtschafts- und Tourismuszentrum umgebaut werden soll. Das wird aber, solange eine Eskalation unmittelbar droht, nicht möglich sein.

Wie die Huthis gehören auch Milizen im Irak, in Syrien sowie die libanesische Hisbollah zur pro-iranischen „Achse des Widerstands“ gegen Israel. Sie sind in einer ohnehin schon volatilen Region die unberechenbarsten Faktoren. Besonders gefährdet ist der Libanon: Fast täglich gibt es Gefechte zwischen der Hisbollah und der israelischen Armee. Außerdem gibt es immer wieder Spannungen zwischen den verschiedenen konfessionellen und politischen Gruppen. Die Erinnerung an den Bürgerkrieg (1975-1990) ist in dem kleinen Mittelmeerland noch präsent und deshalb bemühen sich die meisten Akteure darum, eine weitere Destabilisierung zu vermeiden. Noch funktioniert es.