NiederlandeUrteil zu MH17-Abschuss: Lebenslange Haft für drei Angeklagte, ein Freispruch

Niederlande / Urteil zu MH17-Abschuss: Lebenslange Haft für drei Angeklagte, ein Freispruch
Für Untersuchungen wurde ein Teil des Flugzeugs rekonstruiert, das mit der aus Russland gelieferten Flugabwehrrakete abgeschossen wurde Foto: AFP/Emmanuel Dunand

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Es ist nicht nur eine Klärung für die Angehörigen der 298 Todesopfer, sondern ein Signal auch für aktuelle Kriegsverbrechen. Ein niederländisches Strafgericht verurteilt die Täter des Abschusses einer Boeing auf dem Flug MH17 vor acht Jahren – in Abwesenheit.

Eines der aktuell wichtigsten Signale hat sich der Vorsitzende Richter Hendrik Steenhuis nach stundenlanger Urteilsverlesung für seinen letzten Satz aufgehoben. Die Urteilsbegründung sei von diesem Freitag an „auch in Russisch verfügbar“. Die Lektüre empfiehlt sich vielen Russen. Denn das niederländische Strafgericht hat nach acht Jahren die Schuld für den 298 Zivilisten tötenden Abschuss der malaysischen Passagiermaschine auf dem Flug MH17 geklärt: Zwei Russen und ein ukrainischer Separatist ist die Beteiligung an 298-fachem Mord nachgewiesen. Sie wurden zu lebenslanger Haft verurteilt.

Wenige hundert Meter von der Startbahn des Amsterdamer Flughafens Schiphol, von der am 17. Juli 2014 die Boeing 777 abhob, klärte das Gericht erste Schuldfragen. Dem waren jahrelange Nachforschungen und Rekonstruktionen durch ein internationales Ermittlerteam und 32 Monate Prozess vorausgegangen. Damit steht für die unabhängige Justiz ohne Zweifel fest, dass der Ziviljet von einer Rakete eines russischen Buk-Boden-Luft-Lenkwaffensystems zerstört wurde. Stationiert war es auf einem Feld im von Separatisten im Raum Donezk kontrollierten Gebiet. Geliefert worden war es vom russischen Militärstützpunkt Kursk. Und nach dem Abschuss wurde es wieder über die Grenze zurückgebracht.

Das Gericht ließ sich nach der minutiösen Bewertung Hunderter von Beweisen durch Originaltrümmerteile, Fotos, Videos, Satellitenbilder, Mitschnitte von Funksprüchen nicht auf die von Russland versuchte Finte leiten, wonach ukrainisches Militär die Maschine versehentlich abgeschossen hätte. Dazu hatte der Kreml vier Jahre nach dem Abschuss sogar eine Lenkwaffe präsentiert, die 1996 in die Ukraine geliefert worden sein soll. Unmittelbar nach dem MH17-Absturz hatten russische Medien allerdings noch über den erfolgreichen Abschuss einer ukrainischen Militärtransportmaschine durch Milizionäre der „Volksrepublik“ berichtet.

Angeklagte offenbar in Russland

Die Verurteilten sind der frühere russische Geheimdienstoffizier und Separatisten-Kommandant Igor Girkin, der frühere russische Offizier und Girkin-Stellvertreter Sergej Dubinski sowie der mutmaßliche Chef einer örtlichen Separatisten-Kampfeinheit, der Ukrainer Leonid Chartschenko. Dubinskis Assistenten, Oleg Pulatow, sprach das Gericht frei. Er hatte als einziger einen Verteidiger nach Amsterdam entsandt. Die Anklagebank blieb während des gesamten Prozesses leer. Die Beschuldigten und nun Verurteilten sollen sich in Russland befinden und werden von der Föderation nicht ausgeliefert.

Die Mechanismen des Waffeneinsatzes und der Zielauswahl vollzog das Gericht bis in kleinste Details nach und kam zu dem auch für die Geschehnisse der nachfolgenden Jahre in der Ostukraine wichtigen Erkenntnis, dass die prorussischen Kräfte „vom Kreml gesteuert“ worden seien. Das aktuelle Kriegsgeschehen wird damit zusätzlich beleuchtet und markiert nachträglich eindeutig, wer für die Kämpfe im Vorfeld des breit angelegten Angriffskrieges die Verantwortung trägt. Damit wird auch die russische Binnensicht auf die annektierten Gebiete deutlich, wie sie jüngst darin Ausdruck fand, dass Moskau die Region Cherson zunächst unter russischen Schutz stellte und dann selbst beschoss.

Weiterer Prozess zum Abschuss könnte folgen

Und es zieht sich eine Linie von 2014 bis 2022 bei den am meisten unter der brutalen Aggression leidenden Menschen: unbeteiligte Zivilisten. Die 298 Menschen an Bord der malaysischen Maschine kamen aus zehn Ländern, vier darunter aus Luxemburg, die meisten aus den Niederlanden. Deshalb verständigten sich die betroffenen Nationen darauf, dass dort auch den Tätern der Prozess gemacht werden sollte. Weil die Bedienmannschaft des Bulk-Systems noch nicht ermittelt werden konnte, kann es einen weiteren Prozess zum Abschuss geben.

Im Frühsommer 2014 waren die Kampfhandlungen in der Region allgemein bekannt. Deshalb hatte die Ukraine auch ein Flugverbot für die Region bis zu einer Höhe von 32.000 Fuß erlassen. Die in 33.000 Fuß (zehn Kilometern) Asien ansteuernde Boeing auf dem MH17-Flug war damit deutlich außerhalb der Reichweite der dort zuvor verfügbaren schultergestützten Flugabwehrsysteme. Mehrere hundert internationale Flüge führten seinerzeit über das Kriegsgebiet. Doch die Buk reichte deutlich höher. Sie hätte auch noch doppelt so hoch fliegende Objekte vernichten können. Nach den Ermittlungen der Experten brachten die Schützen die mit Hunderten Eisenteilen gefüllte Lenkwaffe links neben dem Cockpit zur Explosion, wodurch die Kabine durchbohrt wurde und die Maschine auseinanderriss. Erst nach dem Abschuss wurde der gesamte Luftraum gesperrt.