Die russische Armee hat nach ihrer Schlappe im Nordosten von Charkiw in der Nacht zum Donnerstag die zentral-ukrainische Großstadt Krywyj Rih bombardiert. Langstreckenbomber griffen vor allem einen Damm am Fluss Inhulez an. Wegen Überschwemmungen mussten über 100 Häuser evakuiert werden, auch brach die Wasserversorgung teils zusammen. Am Nachmittag wurde eine Fabrik von Marschflugkörpern zerstört. In Krywyj Rih, dem Geburtsort von Staatspräsident Wolodymyr Selenskyj, wurden mindestens acht Ziele getroffen. Bisher wurden keine Todesopfer gemeldet.
In den befreiten Gebieten der Oblast Charkiw häufen sich die Anzeichen für russische Kriegsverbrechen. Leichenfunde in Dutzenden von Dörfern deuten auf Misshandlungen durch die russischen Besatzer wie in der Kiewer Vorstadt Butscha im April hin. Laut Behördenangaben sollen bereits mindestens 40 mutmaßliche Kriegsverbrechen untersucht werden.
Foltergefängnis in Polizeistation?
In einer Polizeistation der befreiten Stadt Balaklija hatten die Besatzer offenbar ein regelrechtes Foltergefängnis eingerichtet. Rund 40 Personen sollen im Keller des Gebäudes festgehalten worden sein. Bis zu 15 Zivilisten wurden offenbar je in eine Gefängniszelle gepfercht, mussten auf dem nackten Fußboden schlafen und wurden mit Videokameras überwacht. Bei den Verhören wurden sie mit Elektroschocks gefoltert. Dabei habe es mindestens ein Todesopfer gegeben, berichtete am Mittwoch Serhij Bolwinow, der Chefermittler der Oblast Charkiw.
„Die Besatzer nahmen diejenigen mit, die beim Militär dienten oder dort Verwandte hatten, und suchten auch nach denen, die der Armee halfen“, schreibt Bolwinow auf Facebook. Das Grab des mutmaßlichen Folteropfers soll in den nächsten Tagen exhumiert werden. Laut Bolwinow konnten sich die Gefangenen während der Rückeroberung der Stadt selbst befreien. Noch ist unklar, wie viele Zivilisten insgesamt gefoltert wurden und ob es mehr Todesopfer gab.

Kiew hat inzwischen gemeldet, dass man bei Kupjansk am Oskil-Fluss eine iranische Shehed-126-Drohne der russischen Armee abgeschossen habe. Wegen hoher Materialverluste ist Russland immer mehr auf Waffenlieferungen aus dem Iran und selbst Nordkorea angewiesen.
IAEA fordert Rückzug Russlands von AKW
Der Gouverneursrat der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) hat Russland in einer am Donnerstag verabschiedeten Resolution aufgefordert, seine Truppen vom umkämpften Atomkraftwerk Saporischschja in der Ukraine zurückzuziehen. Der Rat habe damit „eine weitere starke Botschaft an Russland gesendet: Stellt sofort alle Maßnahmen ein, die die nukleare Sicherheit bedrohen und gebt das Kraftwerk Saporischschja sowie alle anderen ukrainischen Territorien zurück an Kiew“, schrieb der australische Botschafter in Österreich, Richard Sadleir, auf Twitter. Ein weiterer Diplomat bestätigte die Angaben. (AFP)
Dutzende von Videoaufnahmen ukrainischer Soldaten zeigen in den sozialen Netzwerken die hohen russischen Materialverluste der letzten Tage im Raum Charkiw. So hat die russische Armee laut dem Onlineportal Onyx in den vergangenen 15 Tagen mindestens 357 Panzer, Radpanzer und gepanzerte Fahrzeuge verloren. Diese sind auf Bildmaterial von Waffenexperten verifizierbar, es handelt sich als nicht um möglicherweise zu hohe Propagandaangaben des ukrainischen Generalstabs. Die ukrainischen Verluste sind rund siebenmal geringer. 43 Prozent der verlorenen Waffensysteme wurden von den russischen Soldaten bei der Flucht zurückgelassen. Laut dem schwedischen Experten Ragnar Gudmundsson sind 55 Prozent der zurückgelassenen Panzer von den Ukrainern weiterhin brauchbar. Damit soll zusammen mit westlichen Waffenlieferungen der seit Sommer 2014 besetzte Donbass zurückerobert werden.
Ukraine will weiter Richtung Luhansk
Laut Präsidentenberater Oleksij Arestowytsch will die ukrainische Armee zuerst weiter Richtung Luhansk vorrücken. Er gehe von einem erbitterten Kampf um die Stadt Swatowe aus, da Russland dort Versorgungslager unterhalte, sagte der Ukrainer. Die russischen und separatistischen Besatzer fürchteten einen Vormarsch auf Lyssytschansk und Sjewjerodonezk, sobald Lyman vollständig eingenommen sei.

Denis Puschilin, der „Staatspräsident“ der selbsternannten „Volksrepublik Donezk“, erklärte hingegen auf Video, dass Lyman weiterhin in der Hand der Separatisten sei. „Die Situation hat sich stabilisiert. Der Feind versucht, in kleinen Gruppen vorzurücken, aber die alliierten Streitkräfte schlagen sie vollständig zurück“, sagte Puschilin.
Feuerpause im Kaukasus
Nach zwei Tagen schwerer Kämpfe zwischen Aserbaidschan und Armenien im Südkaukasus ist armenischen Angaben zufolge eine Waffenruhe vereinbart worden. Die Lage sei seitdem verhältnismäßig ruhig, hieß es am Donnerstag aus dem Verteidigungsministerium in der armenischen Hauptstadt Eriwan. Die Feuerpause gilt seit Mittwochabend, 20.00 Uhr Ortszeit (18.00 Uhr MESZ), wie der Sekretär des armenischen Sicherheitsrates, Armen Grigorjan, im Fernsehen sagte. Die autoritär geführte öl- und gasreiche Republik Aserbaidschan hatte Armenien in der Nacht zum Dienstag angegriffen und das mit einem angeblich vorausgegangenen armenischen Sabotageversuch begründet. Viele internationale Beobachter hingegen gehen davon aus, dass Baku die Situation ausnutzte, dass Armeniens Schutzmacht Russland derzeit mit dem Krieg gegen die Ukraine beschäftigt ist. (dpa)
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