Der russische Präsident Wladimir Putin stellt regelmäßig sein Können im Judo und in anderen Kampfkünsten zur Schau. Der Erfolg in diesen Sportarten hängt oft von dem ab, was Japaner kuzushi nennen – den Gegner durch Techniken aus dem Gleichgewicht bringen, die seine körperliche und seelische Balance stören.
Putin hat versucht, die Vereinigten Staaten und ihre NATO-Verbündeten aus dem Gleichgewicht zu bringen, indem er mehr als 100.000 russische Truppen an der ukrainischen Grenze mobilisierte. Putin, der keinen Hehl daraus macht, dass er Russland und die Ukraine als von Natur aus miteinander verbunden betrachtet, könnte in der Wiederherstellung einer solchen Beziehung eine Möglichkeit sehen, sein Vermächtnis zu festigen, indem er die vermeintliche Schmach beseitigt, die Russland in den Jahrzehnten nach dem Zusammenbruch
der Sowjetunion erlitten hat.
Putin könnte geglaubt haben, dass eine Bedrohung der Ukraine das Land destabilisieren und eine Gelegenheit bieten würde, die derzeitige prowestliche Regierung durch eine dem Kreml weitaus gefügigere zu ersetzen. Noch wahrscheinlicher ist, dass Putin davon ausging, dass seine Truppenmobilisierung die USA und ihren relativ neuen Präsidenten Joe Biden unter Druck setzen würde, die Rückkehr der Ukraine in Russlands Einflussbereich zu akzeptieren.
Schließlich hatten die USA gerade einen chaotischen und nahezu bedingungslosen Rückzug aus Afghanistan vollzogen. Mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 ist Putin weitgehend ungestraft davongekommen. Und der chinesische Präsident Xi Jinping hat für die Abschaffung der Demokratie in Hongkong ‒ wenn überhaupt ‒ nur einen geringen Preis bezahlen müssen. Aus der Ferne wirkten die USA daher schwach, gespalten und
selbstbezogen.
Mangelnder Respekt
Hinzu kommt Putins mangelnder Respekt vor Amerikas europäischen Verbündeten. Deutschland, das unklugerweise beschlossen hat, aus der Atomenergie auszusteigen, hat sich in eine größere Abhängigkeit von russischem Gas begeben und fühlt sich, wie es für Westdeutschland während des Kalten Krieges oft der Fall war, unwohl damit, den Kreml zu konfrontieren. Darüber hinaus begann Putin seine militärische Aufrüstung, als der Winter nahte, in dem niedrige Temperaturen und hohe Brennstoffpreise dem Kreml zusätzlichen Einfluss verschaffen würden. Die Franzosen konzentrierten sich auf ihre bevorstehenden Präsidentschaftswahlen, während das Vereinigte Königreich mit Covid-19, dem Brexit und dem Verhalten von Premierminister Boris Johnson beschäftigt war.
Darüber hinaus hat Putin Maßnahmen ergriffen, um Russlands eigene Anfälligkeit, insbesondere gegenüber Wirtschaftssanktionen, zu verringern. Die Devisenreserven des Landes erreichten im Dezember 2021 einen Rekordwert von 630 Milliarden Dollar, während die hohen Ölpreise der Regierung beträchtliche Einnahmen bescherten. Und China, das bereits diplomatische Unterstützung leistet, könnte finanzielle Hilfe anbieten, falls der Kreml diese benötigen sollte.
Doch während Putin die Ukraine-Krise in der Annahme konstruierte, gegenüber dem Westen klar im Vorteil zu sein, beging er einen Fehler, der sich selbst für einen geübten Kampfsportler als gefährlich erweisen kann: Er unterschätzte seinen Gegner. Biden und die NATO haben zwar erklärt, dass sie nicht unmittelbar im Interesse der Ukraine eingreifen werden, doch das ist nicht gleichbedeutend damit, die russische Dominanz zu akzeptieren. Vielmehr haben die USA eine umfassende Reaktion organisiert. Sie haben Waffen an die Ukraine geliefert, um die Kosten einer möglichen Invasion und Besetzung für Russland zu erhöhen. Es gibt Pläne, die Präsenz in den NATO-Mitgliedsländern zu verstärken, die Russland am nächsten liegen. Erhebliche Wirtschaftssanktionen sind in Vorbereitung. Und die Umleitung von Gas nach Europa würde den möglichen Verlust russischer Lieferungen teilweise ausgleichen.
Wenig beneidenswerte Lage
All das bedeutet, dass Putin mit seinem ersten Vorstoß nicht den entscheidenden Schlag erzielt hat. Diejenigen, die behaupten, der russische Präsident habe den Westen da, wo er ihn haben will, verwechseln etwas. Putin hat sich selbst in eine wenig beneidenswerte Lage gebracht: Er muss entweder eskalieren oder einen Weg finden, ohne Gesichtsverlust einzulenken.
Die USA haben Putin klugerweise einen diplomatischen Ausweg eröffnet. Dies könnte eine neue Struktur zur Unterstützung der europäischen Sicherheit sowie Rüstungskontrollvereinbarungen nach sich ziehen, die den Umfang und den Standort einer Reihe von Systemen begrenzen würden. Ein wiederbelebtes und überarbeitetes Minsker Abkommen würde eine politische Lösung für die Ostukraine anstreben, die den Bewohnern der Region (von denen viele ethnische Russen sind) weitgehende Autonomie einräumt und die Ablösung russischer Soldaten durch internationale Friedenstruppen vorsieht. Die USA haben außerdem signalisiert, dass die Ukraine in absehbarer Zeit nicht der NATO beitreten wird und noch einiges mehr.
Ob ein solches Ergebnis Putin genügen wird, ist ungewiss. Er wird nicht zu hören bekommen, was er will – dass die Ukraine niemals der NATO beitreten kann oder dass sich die NATO-Streitkräfte dorthin zurückziehen werden, wo sie vor mehr als zwei Jahrzehnten waren, bevor das Bündnis nach Mittel- und Osteuropa expandierte. Doch Putin dürften noch ein paar Wochen bleiben, um über seine nächsten Schritte nachzudenken. Er wird bald zur Eröffnung der Olympischen Winterspiele nach Peking reisen – und Xi dürfte deutlich gemacht haben, dass er es nicht begrüßen würde, wenn die Gelegenheit, China vor dem Parteitag der Kommunistischen Partei im Herbst, auf dem er sich um eine dritte Amtszeit bewerben wird, ins rechte Licht zu rücken, durch einen Krieg in der Ukraine überschattet würde.
Putin hat noch eine andere Möglichkeit. Er könnte die militärische Präsenz Russlands in der westlichen Hemisphäre verstärken und behaupten, den USA so zu begegnen, wie sie und die NATO Russland begegnet sind. Aber das wäre riskant und würde nichts zur Klärung seiner Interessen in Europa beitragen.
„Geringfügiges Eindringen“
Es ist unmöglich vorherzusagen, was Putin tun wird, und es mag sein, dass er sich noch nicht entschieden hat. Er könnte sich durchaus für ein so genanntes „geringfügiges Eindringen“ oder eine begrenzte Intervention entscheiden, um die militärische Präsenz Russlands in der Ostukraine womöglich zu verstärken.
Durch ein solches Vorgehen hätte Putin etwas für seine aggressive Diplomatie vorzuweisen, ohne sich größere Sanktionen einzuhandeln, da es unwahrscheinlich ist, dass die 30 NATO-Mitglieder zu einem Konsens darüber gelangen, wie sie reagieren sollen. Dies stünde auch im Einklang mit dem Ansatz von Kampfsportlern, nach taktischen Schwächen zu suchen, um den Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Ein solches Szenario zeigt allerdings die Grenzen der Kampfkunst auf, bei der es mehr um Taktik als um Strategie geht. Diese weitgehend konstruierte Krise in der Ukraine birgt die Gefahr, dass Russland am Ende schlechter dasteht: Es würde zwar etwas mehr Territorium kontrollieren, sich aber neuen Sanktionen, einer stärkeren NATO und einem Nachbarn gegenübersehen, dessen Bevölkerung eine eigenständigere, antirussische Identität entwickelt hat.
Wenn er auf seine Datscha zurückkehrt, wäre Putin somit gut beraten, sich mit einem anderen Spiel zu beschäftigen, das eng mit Russland verbunden ist: Schach, bei dem die besten Spieler mehrere Züge vorausdenken und ihrem Gegner Respekt entgegenbringen.
* Richard Haass ist Präsident des US-amerikanischen Thinktanks Council on Foreign
Relations.
Aus dem Englischen von Sandra Pontow.
Copyright: Project Syndicate, 2022, www.project-syndicate.org
De Maart
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können