Spiderking: The Furious Toy 69 oder drei Kulturredakteure und vier Blockbuster

Spiderking: The Furious Toy 69 oder drei Kulturredakteure und vier Blockbuster

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Im Sommerloch bleibt der Fan von Autorenkino oftmals auf der Strecke. Anhänger von Blockbustern aus der Traumschmiede kommen hingegen auf ihre Kosten – falls sie ihre Ansprüche an gutes Kino runterschrauben. Die Kulturredaktion des Tageblatt hat sich vier Blockbuster („Toy Story 4“, „Spiderman: Far From Home“, „Fast & Furious: Hobbs & Shaw“ und „The Lion King“) angesehen – und unterhält sich über die wirtschaftliche Ausbeutung von Lizenzen, die Hartnäckigkeit gängiger Gesellschaftsklischees, die Serialisierung des Kinos und die (un)geschickte Verarbeitung alter Erzählfäden.

Jeff Schinker: Was einem beim Anblick der aktuellen Programmierung des Kinepolis Kirchberg ins Auge sticht, ist die totale Abwesenheit jeglicher autonomer Produktionen. Hollywood schafft keine neuen Fiktionswelten, sondern verlässt sich auf altbewährte Lizenzen, die immer und immer wiederverwertet werden. Niemand ist mehr bereit, ein finanzielles Risiko einzugehen. Großproduktionen wie „Inception“, die man nicht in eine Fortsetzungslogik einbetten kann, werden immer seltener.

Dabei scheint mir „Spiderman: Far From Home“ am deutlichsten zu zeigen, wie sehr auch die Vorherrschaft von Netflix und Co. die Kinolandschaft beeinflusst hat: Konnte man sich früher einfach einen Spiderman-Film anschauen, ohne auch nur zu wissen, wer Tony Stark ist, verstricken sich die Marvel-Filme seit „Avengers“ so sehr, dass der Fan fast gezwungen ist, alle gefühlten 30 Lizenzen zu verfolgen, um den Überblick zu behalten.

In dem Sinne ist Spiderman als Symbol dieses Wirtschaftssystems zu sehen: Der Fan wird in ein erzählerisches (Spinnen-)Netz verwickelt, aus dem der einzige Ausweg das ständige Konsumieren der Fortsetzungen ist.

Tom Haas: Fairerweise könnte man es in Bezug auf das Marvel Cinematic Universe auch Worldbuilding nennen, das Prinzip existierte ja schon zuvor in den Comics und wurde nun ins audiovisuelle Medium übertragen.

Der Film funktioniert als einzelnes Werk, bietet aber Fans der Franchise ihre vermeintlich nerdigen Insider. Richtig bedauernswert finde ich eigentlich die narrative Inkonsequenz: Zuerst sterben alle, dann sind sie wieder da, jeder Film führt neue Charaktere ein, die anscheinend im hintersten Winkel bereits existiert haben, aber weder Substanz haben, noch substanziell zur Geschichte beitragen.

Damit ein Spinnennetz funktioniert, bedarf es Spannung. Was Marvel fabriziert, ist aber ein undefinierbarer, filmischer Gulasch, an dem zu viele Köche – sprich Autoren, Produzenten, Regisseure – mitgewirkt haben. Und um in der Küche zu bleiben: Ja, die ganzen Geschichten schmecken, als wären sie schon dreimal durch die Mikrowelle gejagt worden.

Natürlich lockt man mit einem Remake des Königs der Löwen genau die Leute ins Kino, die ihren Kindheitserinnerungen an den Zeichentrickfilm nachhängen und „The Fast & the Furious“ wirkt in seiner Serialisierung schon fast wie Baywatch mit Autos und Explosionen statt Strand und Brüsten. Etwas wirklich Neues sucht man vergebens.

Luc van den Bossche: Und vielleicht geht es auch genau darum: in einer von politischen und gesellschaftlichen Unsicherheiten geprägten Zeit mit wohl Bekanntem ein Sicherheitsgefühl zu geben, einzulullen. „Kulinarisches“ Kino quasi, um es mit Brecht zu sagen.

Wobei der Ehrlichkeit halber erwähnt werden sollte, dass es sich bei den oben erwähnten Filmen nicht nur um allzu fade Aufgüsse handelt. Dass beispielsweise „Toy Story 4“ wahrscheinlich nicht in die Annalen der Filmgeschichte eingehen wird, ändert nichts daran, dass es sich trotz allem um einen soliden Film handelt. Und selbst der letzte „Fast & Furious“ hat immerhin noch den Verdienst, sich nicht mehr selbst ernst zu nehmen und sich der Absurdität hinzugeben. Anspruchslose Filme also, aber zumindest ohne den Anspruch, mehr zu sein, als sie sind.

Jeff Schinker: Dem muss ich teilweise widersprechen. World-Building ist hier doch hauptsächlich ein Vorwand, um eine aufgesetzte Vernetzung vorzutäuschen. Klar, eine Fiktionswelt ist per Definition unvollständig – das klassische Beispiel will, dass man nicht bestimmen kann, ob Lady Macbeth Kinder hat, weil der Text zu diesem Thema widersprüchliche Anweisungen gibt.

Was wir hier aber vorfinden, sind substanzlose Figuren und zusammenhanglose Plotwendungen, die wohl das Resultat von Fan-Beschwerden sind, die diese oder jene Figur vermissen. Hier gerät die Stimmigkeit der Fiktionswelt in Konflikt mit den Wünschen der Zuschauer – man entwickelt die Story „on demand“, weil so mehr erwirtschaftet werden kann.

Bei „Toy Story 4“ stimme ich dem Kollegen van den Bossche zu – hier werden, im Gegensatz zum „Lion King“-Remake, keine peinlichen Kindheitserinnerungen verdichtet und als esoterischer Mist entlarvt, sondern Kindheitsängste und -wünsche inszeniert. Pixar vermag es zum Teil, mithilfe einer selbstreferenziellen Welt die Rolle der Fiktion in unserem Alltag darzustellen – ganz nach Donald Winnicotts Theorie, dass das Spiel zentral in der Entwicklung unserer sozialen Kompetenzen ist.

„Fast & Furious“ mag sich selbst nicht ganz ernst nehmen, das ist klar. Jedoch stört mich fast genau das: Der Film will einfach, wie man auf Französisch sagt, „le beurre, l’argent du beurre et la crémière“.

Die Frauenfiguren sind nun zwar stärker (eine Gegebenheit, die im Übrigen alle vier Fortsetzungen charakterisiert), es fallen aber jede Menge machistische Sprüche – und am Ende muss die Hauptdarstellerin trotzdem gerettet werden. Der Plot nimmt sich nicht ganz ernst – und trotzdem muss die Welt gerettet werden. Das Zielpublikum sind also Menschen, die Autorennen, homoerotische Buddy-Filme, humoristische Metaebenen, kitschige Romanzen und James-Bond-Filme mögen. Sprich: Der Film soll es jedem recht machen. Da vermisst man fast die Zeiten, zu denen die Franchise nur Fans von getunten Autos ansprach.

Tom Haas: Für mich klingt deine Definition der Zielgruppe nach dem Klischee des Millennial-Mannes, der eigentlich gerne noch der Mann aus den 80ern wäre, es aber nur noch mit einem Augenzwinkern sein darf.

Bei „Toy Story“ muss ich euch beiden widersprechen: Das ist ein trauriger Werbefilm für Merchandise, die sich zunehmend schlechter absetzen lässt. Es geht doch nicht um das Kinderspiel, sondern um ein Eigenleben der Masse an Zeug, mit der die Kinder sich umgeben. Die Kids selbst sind ohne jeden Tiefgang, ihre Spiele aus dem vorletzten Jahrhundert. Den Bond-Plot inklusive Verfolgungsjagden und Rettungsaktionen teilen sich die beiden Filme ironischerweise.

Luc van den Bossche: Ich bin nicht ganz einverstanden mit euren Definitionen der Zielgruppe des „Autostreifens“, die ich beileibe nicht so breit definieren, sondern eher auf Liebhaber von trashigen 80er-Jahre-Actionfilmen eingrenzen würde. Und natürlich hat „Toy Story“ auch eine kommerzielle Dimension.

Das gilt jedoch auch für jeden einzelnen Marvelfilm, insofern als das World-Building – wie man im angelsächsischen Sprachraum sagt –, ob man es nun gut oder schlecht findet, ein probates Mittel einer „fidélisation de la clientèle“ darstellt. Und dass diese, wie Kollege Schinker bereits erwähnt hat, einen wachsenden Einfluss auf die Filmproduktion nimmt, ist vielleicht nicht rein negativ.

Denn bei aller persönlichen Liebe für „schwierige“ Cineasten wie Andrej Tarkowskij muss man sich schon anstrengen, sich dessen Elitismus schönzureden. Und was ist eigentlich verkehrt daran, in einem Wirtschaftssystem, in dem das Spiel von Angebot und Nachfrage das Geschehen beherrscht, den Zuschauern das zu geben, was sie wollen? Diese Filme wollen keine Kunst sein, warum sie also nach künstlerischem Anspruch beurteilen?

Jeff Schinker: Stichwort „Traurige Werbefilme für Merchandise“: Sind das inzwischen nicht all diese Filme geworden? Mittlerweile macht es doch (fast) keinen Unterschied mehr, ob es eine fiktionale Vorlage gibt, die man anschließend nutzt, um nachher die Gadgets zu produzieren – oder ob man in einer zynischen Umkehrung aus der Spielzeugvorlage im Nachhinein eine Fiktionswelt schmiedet – wie bei dem derzeit anlaufenden Playmobil-Film.

Die Filme wollen keine Kunst sein, einverstanden. Und trotzdem: Für mich sind Lynch-Filme kein Genuss für eine kulturelle Elite, sie sagen etwas darüber aus, was es bedeutet, in der heutigen Welt zu leben, sind Träger von Schönheit, Emotionen oder, wenn man einen Regisseur wie Ken Loach nimmt, sozial und politisch engagiert.

Alles, was ich diesen blutarmen Filmen entnehmen kann, ist die Reproduktion von Schemata, die man bereits tausendmal gesehen hat. „Lion King“ ist nichts anderes als der Hamlet-Plot mit Tieren, das Remake fügt dem nur mehr Kitsch und eine National-Geographic-Ästhetik hinzu.

Kollege van den Bossche hat natürlich recht: Eine solche Debatte hat etwas Anmaßendes an sich. Ich denke nichtsdestotrotz, dass das Publikum hier teilweise veräppelt wird. Ein intelligenter Blockbuster gibt dem Publikum auch, was es will – und fügt dem, wie im Fall von Nolans „Inception“, vertrackte Erzählebenen, intelligentes Storytelling hinzu. Im Gegensatz dazu erfüllen die vier Filme höchstens die minimalen Erwartungen des Zuschauers. Nur weil jemand gerne einen Döner isst, muss man diesen doch nicht mit Billigfleisch servieren? Zudem finde ich die Ideologien, die diesen Filmen zum Teil innewohnen, zum Teil problematisch …

Tom Haas: Anmaßend finde ich es eher, zu denken, das Publikum wäre nicht imstande, einen guten Film zu erkennen, wenn es einen sieht. Was der Kollege van den Bossche beschreibt, ist letztlich die Entkunstung der Kunst, das audiovisuelle Äquivalent von Fettpaste mit Geschmacksverstärker und Farbstoffen.

Natürlich ist das eine treffende Beschreibung dessen, was Hollywood in der Hauptsache herstellt. Das bedeutet aber nicht, dass man diese Entwicklung mit einem Schulterzucken quittieren sollte und den marktgerechten Unsinn als notwendigen Umgang mit scheinbaren Sachzwängen adelt.

Wer sich in einen Regiestuhl setzt, wer ein Drehbuch schreibt, wer eine Kamera schultert, übernimmt Verantwortung. Genau wie ein Kinogänger natürlich verantwortlich für das ist, was er sich in seiner Freizeit ansieht – und wenn das Kino nur noch ein Ort ist, an dem das Hirn in den Stand-by-Modus wechselt, dann läuft in der gesamtgesellschaftlichen Kunstrezeption gehörig was schief.

Denn Filme transportieren eine Ideologie, ob sie wollen oder nicht, ob ihre Macher das intendieren oder nicht. Das geht über den Streifen hinaus und umfasst natürlich auch das Marketing, das Franchising und die Präsentationssituation. Und wenn diese Elemente nur Zahnräder in einem System sind, das gedankenlose Konsumzombies produziert, dann ist es die Aufgabe von uns, die in dieser Zeitung schreiben, genau das zu benennen. Wir wollen gute Filme, der Kinobesuch soll uns neue Perspektiven auf uns und die Welt ermöglichen und nicht nur eskapistischen Unfug servieren.

Luc van den Bossche: Ganz unrecht hat der Kollege Haas nicht, und auch, dass der Zuschauer teilweise veräppelt wird, lässt sich nicht ganz leugnen. Etwas zu melodramatisch ist mir seine Aussage dann aber doch. Er will „gute“ Filme? Die kann er doch haben, kein Problem! Nur sollte er da vielleicht besser ins Utopia oder die Cinémathèque gehen als ins Kinepolis. Es gibt genug Kinos hierzulande, dass jeder auf seine Kosten kommen dürfte. Aber zu verlangen, dass in einem Kino, das für Blockbuster inoffiziell „vorgesehen“ ist, Arthouse läuft, ist schon ein bisschen anmaßend.

Fakt ist nun mal, dass sich diese „Fettpaste“ verkauft, und wenn die Leute für „Billigfleisch“ Schlange stehen, so ist das doch ihre Entscheidung. Wer keinen Kaviar mag, dem sollte man keinen Kaviar aufzwingen. Jeder ist für sich selbst verantwortlich, und wenn sich niemand diese Filme anschauen würde, gäbe es sie nicht.

Klar schaue ich mir persönlich lieber beispielsweise Edgar Wrights „Baby Driver“ als den x-ten Teil von „Fast & Furious“ an – um zwei Filme im selben Genre zu nennen – aber „qui suis-je pour juger autrui“?

Jeff Schinker: Höre ich da etwa die Zwischentöne einer wertenden Aussage, Kollege van den Bossche? Wenn Arthouse Kaviar ist und die Blockbuster Gammelfleisch sind, muss man dem Kinobetrieb immerhin eingestehen, dass hier Kaviar und Billigfleisch zu einem einheitlichen Preis verkauft werden. Anmaßend ist es seitens der Filmemacher schon zu denken, dass man den Zuschauer mit dürftigen Produktionen abspeisen kann – leider geben die Verkaufszahlen ebendiesen Produzenten im Endeffekt recht.

Das liegt meines Erachtens daran, dass viele Zuschauer in der Tat das Kino, falls sie denn überhaupt noch hingehen, als Ort ansehen, an dem sie ihr Hirn auf Stand-by stellen. Und gerade deswegen ist die implizite Ideologie dieser Filme problematisch: Die teils politischen, teils soziologisch arg zurückgebliebenen Ansichten haben so allen möglichen Übertragungsraum. Diese Verantwortung können die Filmemacher allerdings zu jedem Zeitpunkt zurückweisen – und mit Augenzwinkern behaupten, sie würden ja „nur“ für die Unterhaltungsindustrie arbeiten.

Dass diese Blockbuster sich jedoch bewusst sind, dass mit Netflix und Konsorten das Ende ihrer Ära irgendwann eingeläutet werden könnte, merkt man einem Film wie „Fast & Furious“ an: Er kommt nicht ohne überdeutliche Referenzen an „Game of Thrones“ aus – wohingegen „Game of Thrones“ sehr leicht auf „Fast & Furious“-Referenzen verzichten kann.

Tom Haas: Ich wünschte, ich könnte deinen Optimismus teilen. Ich fürchte allerdings, dass die Streamingdienste lediglich die Eventisierung des Kinobesuchs vorantreiben, sodass man ihn schließlich nicht mehr von einem Freizeitpark unterscheiden kann. Die fortschreitende Verdummung übernehmen dann Netflix und HBO.

Luc van den Bossche: Ich kann weder die optimistische noch die pessimistische Haltung der Kollegen wirklich nachvollziehen. Der Kinobesuch ist und war schon immer ein Event. Und bei seinem Vorgänger, dem Theater, war das nicht anders.

Klar ist es suboptimal, dass so viel Schund produziert wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Leute, die sich das ansehen, automatisch dumm sind – wie es mitunter bei euch mitschwingt. Sie möchten vor allem unterhalten werden, und daran ist an und für sich doch nichts verkehrt. Und es ist schon etwas scheinheilig, einerseits die Ideologie der Massenware zu kritisieren, die eigene elitäre Vorstellung, von dem, was Film zu sein hat, aber unhinterfragt in den Raum zu stellen.

Denn damit seid ihr sozusagen Ernährungsberater und keine Restauranttester, sagt den Zuschauern, was ein Film eurer Meinung nach zu sein hat, anstatt ihnen verständlich zu machen, was ihnen an einem Film gefallen könnte und warum. Und das verdient den Namen Filmkritik nicht.

Ein Satz, ein Film, eine Moral

Lion King. Ihr wisst schon: Der Lion-King-Klassiker mit National-Geographic-Elementen und vor Kitsch triefenden Songs.
Moral: Das Leben ist ein (kitschiger) Zyklus.

Spiderman: Far From Home. Das gefühlt fünfte Reboot und die Fortsetzung von „Avengers“ und ca. 30 anderen Marvel-Lizenzen, im Laufe derer Peter Parker wieder die Welt (ganz spektakulär: diesmal in Europa) rettet, zeitgleich seine Schüchternheit überwinden und das Herz von MJ erobern will.
Moral: Traue niemandem, vor allem nicht Menschen, die vorgeben, deine pubertären Probleme voll und ganz zu verstehen.

Fast & Furious: Hobbs & Shaw. Eine böse Firma hat einen bösen Virus in die Welt gesetzt, um faschistoide Eugenik zu betreiben – Hobbs und Shaw müssen folglich ihre Rivalitäten und Familientraumata überwinden, um die Welt mithilfe von reichlich Geballer, Autorennen und coolen Sprüchen zu retten.
Moral: Maschinen sind böse, Menschen sind gut.

Toy Story 4. Cowboy Woody hat eine neue Besitzerin, muss gegen Nostalgie, Altersprozesse und schwankende Coolness ankämpfen, ein tollpatschiges neues Spielzeug beschützen und seine alte Liebe wiederfinden.
Moral: It’s okay to grow old.