Was haben TikTok-Videos und Liegesofas gemeinsam? Beide sind laut Patrick Obertin, Präsident der „Association luxembourgeoise des kinésithérapeutes“ (ALK), mitverantwortlich für Rückenprobleme bei Kindern und Jugendlichen. Denn: Die Sofas tragen zu einer schlechten Sitzhaltung bei, während Videoblogger oftmals falsche Informationen oder ein falsches Vorbild vermitteln. Unkontrolliertes Krafttraining in Fitnessstudios und YouTuber ohne Vorkenntnisse sind Obertin ein Dorn im Auge. „Und natürlich: Sitzen ist das neue Rauchen.“ Dies gelte für alle Aktivitäten, die Jugendliche sitzend erledigen: vom Lernen über das Computerspielen bis zum Handyschauen.
Das Ergebnis sei eine zunehmend junge Patientenschaft, die physiotherapeutische Hilfe in Anspruch nimmt. Obertin ist seit über 25 Jahren als Physiotherapeut tätig und stellt fest: Das Alter seiner Patienten hat sich vor allem in den vergangenen zehn Jahren verändert. Erste Symptomatiken von Rückenschmerzen treten bereits bei Zwölfjährigen auf. „Es gibt immer zwei Extreme: Diejenigen, die sich gar nicht bewegen, und diejenigen, die es zu viel tun“, sagt er. „Ich hatte bereits einen 17-Jährigen mit einem Bandscheibenvorfall. Das ist kaum zu verstehen.“ Außerdem stellt Obertin fest, dass sich der Rundrücken bei Jugendlichen immer mehr nach unten verlagert. Dies sei dem vielen Sitzen auf Sofas mit Liegefunktion verschuldet. „Ich glaube, dass das viel Schaden anrichtet.“
Mehr Sensibilisierung in Schulen

Diesen Schaden gilt es jetzt zu beheben. Präventive Maßnahmen sollten schon in der Schule anfangen, findet der ALK-Präsident. Statt zusätzliche Sportunterrichtsstunden einzuführen, sollten die Schüler die Möglichkeit haben, sich täglich in der Schule zu bewegen. „Ich würde es ideal finden, den Kindern morgens vor Schulbeginn eine halbe Stunde Yoga oder Stretching anzubieten“, sagt er. Stehtische und höhenverstellbare Pulte seien ebenfalls sinnvoll. Dem Unterricht stehend oder auf einem höheren Hocker sitzend zu folgen, sorge für weniger Anspannung in den Beinen. Parallel dazu schlägt Obertin das Fach „Education à la santé“ vor. Dieses soll zur Sensibilisierung in puncto Hygiene, Sport und Lebensstil beitragen – vorzugsweise in der Grundschule. Und: Physiotherapeuten könnten neben ihrer Arbeit in der Praxis die Schüler sensibilisieren. „Damit wären wir in Luxemburg endlich einmal innovativ.“
Auch das Gesundheitsministerium vertritt die Meinung, dass „die Vorteile regelmäßiger körperlicher Aktivität vom Bildungspersonal effektiv vermittelt werden sollten“. Auf Tageblatt-Nachfrage erklärt das Ministerium, dass Lehrkräfte die Möglichkeit haben, körperliche Aktivität in den Unterricht zu integrieren. Dies sei beispielsweise mit Projekten wie „Clever Move“ der Fall. Darüber hinaus sei es wichtig, dass Jugendliche und Heranwachsende im Alltag ausreichend aktiv sind, indem sie die Möglichkeiten innerhalb und außerhalb des Bildungssystems nutzen. Ähnlich wie Obertin unterstreicht das Gesundheitsministerium, dass bei Rückenschmerzen viele Faktoren berücksichtigt werden müssen: Besonders gefährdet seien Jugendliche, die die Empfehlung für körperliche Aktivität von 60 Minuten pro Tag nicht einhalten, mehrere Nährstoffmängel aufweisen, eine schlechte Schlafqualität, ein hohes Stressniveau und eine zu schwere Schultasche haben.
Faktor Schulranzen umstritten
Schwere Schulranzen: Maßnahmen des Bildungsministeriums
Der Service Script entwickelt Schulmaterialien, die das Gewicht der Schulranzen möglichst reduzieren sollen, schreibt Myriam Bamberg, Kommunikationsbeauftragte des Bildungsministeriums, auf Tageblatt-Nachfrage. Dies betreffe sowohl Bücher als auch Materialien im Heft-Broschüre-Format. Die dünneren Hefte sollen das Programm von rund sechs Wochen statt eines ganzen Schuljahres abdecken. Außerdem empfiehlt das Bildungsministerium den Eltern von Grundschulkindern, den Ranzen gemeinsam mit ihren Kindern zu packen. Zwar habe die Digitalisierung „sicherlich“ dazu beigetragen, dass Schüler leichtere Rucksäcke zu tragen haben. Sie führe allerdings nicht dazu, dass sie nicht mehr mit Schulbüchern arbeiten. „Das gedruckte Buch ist für viele Kinder und Jugendliche immer noch ein wichtiges Medium zum Lernen“, schreibt Bamberg.
Bei der Frage, ob das Gewicht der Schultasche einen Einfluss auf Rückenschmerzen haben könnte, gehen die Meinungen auseinander. Laut dem Gesundheitsministerium deuten die Daten eines kürzlich durchgeführten „scoping review“ von Muskel-Skelett-Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen jedoch darauf hin, dass der Zusammenhang zwischen dem Tragen eines Schulranzens und Rückenschmerzen „schwach und sogar fragwürdig“ sei. Hilfreicher als eine Richtlinie zu Höchstgewichtsgrenzen seien allgemeine Ratschläge zum Tragen von Rucksäcken. Diese betreffen die Art des Rucksacks, die Lendenwirbelstütze und die Polsterung sowie die Qualität des Sitzes der Schultergurte.
Auch die Antwort auf die Frage, ob es beim Tragen von Rucksäcken ein maximal tolerierbares Gewicht gebe, bleibt unklar. Konventionelle Richtlinien berufen sich auf zehn Prozent des Körpergewichts. Das Gesundheitsministerium empfiehlt, diese Richtlinie im Zweifelsfall auch zu respektieren. Laut der „Kidcheck“-Studie, die Forscher der Universität des Saarlandes durchgeführt haben, gibt es für die Zehn-Prozent-Regel jedoch keine wissenschaftliche Grundlage. Dennoch kann das Tragen eines schweren Rucksacks über einen längeren Zeitraum dazu führen, dass die Muskeln ermüden und die Schüler ihre Körperhaltung beim Tragen des Schulranzens verändern, so das Gesundheitsministerium. Aus diesem Grund sei es wichtig, „Strategien zu entwickeln, um das Gewicht des Schulranzens und seine möglichen langfristigen Auswirkungen auf die Jugendlichen zu reduzieren“.
Vorsicht ist besser als Nachsicht
Auch Obertin zweifelt stark daran, dass das Gewicht von Schulranzen einen Einfluss auf Rückenschmerzen oder die Entwicklung eines Hexenschusses hat. „Bisher ist noch niemand in meine Praxis gekommen, der mir gesagt hat, er habe Rückenschmerzen, weil er einen Ranzen trägt“, meint er. „Aber es ist eine ganz tolle Erklärung, denn dann ist niemand schuldig. Wir können ja nichts dafür, dass ein Blatt Papier oder Bücher so viel wiegen. Ich denke, dass das bei irgendjemandem eventuell einen minimalen Einfluss haben könnte, aber das ist nicht das Problem.“ Viel wichtiger sei es, sich selbst infrage zu stellen: Warum sind die Schmerzen aufgetreten? „Habe ich vielleicht eine Krankheit oder benutze ich meinen Körper falsch? Die zweite Frage ist: Was können wir tun, um das Problem wieder loszuwerden?“
Laut Obertin sollten Betroffene die Schmerzen ernst nehmen und umgehend einen Experten kontaktieren. Dies kann ein Physiotherapeut, ein Osteopath oder ein Hausarzt sein, der sich in diesem Bereich auskennt. Massagen alleine reichen allerdings nicht aus, wenn man keinen Sport treibt. „Viele Leute haben Rückenschmerzen, nicht weil sie nicht genug Kraft im Rücken haben, sondern weil sie steif sind und sich nicht ausreichend bewegen“, so Obertin. Um Rückenschmerzen vorzubeugen, empfiehlt er, täglich einer sportlichen Aktivität nachzugehen. „Um die Gesundheit soll man sich nicht erst kümmern, wenn man krank ist, sondern wenn man anfängt, in die Schule zu gehen.“

De Maart
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können