Tageblatt: Frau Esken, gibt es eine Weihnachtsruhe in diesem Jahr?
Saskia Esken: Es gibt am Ende dieses Jahres überall eine große Sehnsucht nach ruhigen Tagen. Alle brauchen eine Verschnaufpause. Das ist nach dem, was uns die Corona-Pandemie abverlangt hat, und nicht zuletzt angesichts der schockierenden Ereignisse am 24. Februar 2022 ja auch kein Wunder. Ich hoffe sehr, dass uns der Weltenlauf ein paar ruhige und besinnliche Momente gönnen wird.
Es ist ein Jahr ungewöhnlicher Allianzen gewesen, gerade mit Blick auf die Energiepolitik. Wie passt es zusammen, Fracking-Gas zu importieren und Fracking hier zu verbieten oder mittelfristig aus Gas rauszuwollen und dem Senegal bei der Ausbeutung neuer Gasfelder zu helfen?
Die Bundesregierung musste in diesem Jahr viele Entscheidungen treffen, die während der Koalitionsverhandlungen noch nicht absehbar waren. Wir hatten das Land durch die größte Krise seit dem Zweiten Weltkrieg zu steuern. Doch das tun wir ja auch in großer Verantwortung für eine gute Zukunft. Dass wir nun zum Beispiel Schwimmterminals für Gaslieferungen haben, geht auf das schnelle und richtige Handeln der Ampel-Regierung unter der Führung von Bundeskanzler Olaf Scholz zurück. Dass dieses Terminal auch dafür geeignet ist, grünen Wasserstoff anzuliefern, weist in eine klimaneutrale Zukunft. Gleichzeitig beschleunigen wir den Ausbau erneuerbarer Energien.
Womit hat Scholz Sie überrascht?
Ich habe Olaf Scholz als einen Spitzenpolitiker der SPD kennenlernen dürfen, der einen untrüglichen sozialdemokratischen Kompass besitzt. Er sorgt dafür, dass unser Land derzeit gut durch die Krise kommt und er hat gleichzeitig im Blick, dass unsere Politik für das Land wie auf internationaler Bühne eine klare sozialdemokratische Handschrift trägt – Brandt’sche Weltinnenpolitik im besten Sinne. Das hat mich nicht überrascht, doch es beeindruckt mich sehr.
Ist das nicht vor allem Ihre Aufgabe, aus der Partei heraus dem Kanzler auch klare Leitlinien zu geben?
So arbeiten wir nicht, dass einer dem anderen sagt, was er tun soll. Wir reden viel, wir hören uns zu, wir arbeiten vertrauensvoll zusammen und wir ergänzen uns.
Muss der Staat aus Ihrer Sicht die Daseinsvorsorge ausbauen?
Die SPD steht für einen aktiven, handlungsfähigen Staat, der Regeln und Ziele setzt, dafür aber auch die Rahmenbedingungen liefert. Das gilt insbesondere auch in der Wirtschaftspolitik. Die Lieferengpässe, die wir jetzt im Zusammenhang mit den globalen Krisen erleben, zwingen uns definitiv zum Handeln, und das nimmt uns niemand ab. Ich unterstütze daher Karl Lauterbachs Pläne, die unter anderem dazu beitragen, dass im Krisenfall keine Engpässe bei Kinderarzneimitteln aufkommen. Klar ist aber auch: Wenn wir einen handlungsfähigen Staat wollen, dann muss er auch finanziell handlungsfähig sein.
Was meinen Sie damit?
Die staatlichen Aufgaben werden ja nicht kleiner. Nehmen Sie den Umbau der Wirtschaft zur Klimaneutralität oder den digitalen Wandel der Verwaltung, der Schulen, des Gesundheitswesens. Auch der Fach- und Arbeitskräftemangel gehört dazu, die Demografie, die Bildung. Das alles muss gestemmt werden, auch wenn die Krisenbewältigung im Vordergrund steht.
Aus meiner Sicht werden wir aufgrund der Krisen die Schuldenbremse auch im nächsten Jahr nicht einhalten können
Sie halten also an einer Vermögensabgabe und Steuererhöhungen für Reiche fest, auch wenn die FDP blockiert?
Aus meiner Sicht werden wir aufgrund der Krisen die Schuldenbremse auch im nächsten Jahr nicht einhalten können. Grundsätzlich habe ich Verständnis für die Haltung des Finanzministers – wir können ja nicht dauerhaft über unsere Verhältnisse leben. Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass der Staat in der Lage ist, die vielfältigen Ausgaben zu erfüllen. Nehmen Sie als Beispiel die Bildungschancen unserer jungen Generation. Derzeit verlieren wir viel zu viele Schüler, bei einem Viertel von ihnen ist der Misserfolg des Bildungswegs schon in der Grundschule besiegelt. Das ist individuell und gesellschaftlich massiv ungerecht, aber wir können es uns auch volkswirtschaftlich schlicht nicht leisten. Deswegen müssen wir an den Schulen investieren. Das Startchancenprogramm für Schulen mit benachteiligter Schülerschaft, das wir dafür im Koalitionsvertrag vereinbart haben, kann nach jetzigem Stand aufgrund beschränkter Haushaltsmittel erst 2024 gestartet werden. Das ist viel zu spät. Ich plädiere dafür, das in einer ersten Stufe für die Grundschulen schon im kommenden Jahr auf den Weg zu bringen.
Weiter Druck aus dem Willy-Brandt-Haus also?
Wir arbeiten in dieser Koalition nicht mit Druck, sondern mit Überzeugungsarbeit. Da bleibe ich weiter dran.
Die großen programmatischen Reden, etwa zum Thema Verteidigung, hat aber bislang Ihr Co-Vorsitzender Lars Klingbeil gehalten …
Ich habe in den vergangenen Jahren Wege gefunden, um Dinge voranzubringen, die mir wichtig waren. Aktuell sorge ich, ganz in der Tradition der 160 Jahre alten Sozialdemokratie, dafür, dass wir in der Gestaltung der Transformation, die sich die SPD programmatisch vorgenommen hat, nicht nur die Industrie im Blick haben, sondern vor allem die Stärkung der Individuen und ihrer Gesellschaft.
Sie haben sich in diesem Jahr von Twitter verabschiedet. Waren Sie besonders hellsichtig angesichts der jüngsten Entwicklungen um Elon Musk?
Das Geschäftsmodell der sogenannten sozialen Netzwerke, das auf der monetären Verwertung unserer persönlichen Daten beruht, steht unserer Vorstellung eines öffentlichen Raumes für den demokratischen Diskurs vollkommen entgegen und verweigert sich deshalb unserer Regulierung. Insbesondere Twitter zeigt uns in diesen Fragen seit langem die kalte Schulter, um sich für den Verkauf „hübsch“ zu machen. Ich bin nicht mehr bereit, diese Entwicklung mit meiner Reichweite zu unterstützen. Deshalb habe ich Twitter verlassen. Ich habe meinen Account behalten, damit ihn niemand missbraucht, aber ich habe alles gelöscht und nutze mein Konto nicht mehr. Die aktuelle Entwicklung unter Elon Musk macht deutlich, wie richtig meine Entscheidung war. Ich bin jetzt stattdessen bei Mastodon, einem nicht kommerziellen Netzwerk.
Die Beständigkeit und die Entwicklung rechtsradikaler Netzwerke und die erschreckende Ignoranz dem gegenüber erfüllen mich seit meiner frühen Jugend mit tiefer Sorge
Sie standen auf einer der bei Reichsbürgern gefundenen Listen. Wie gehen Sie damit um?
Die Beständigkeit und die Entwicklung rechtsradikaler Netzwerke und die erschreckende Ignoranz dem gegenüber erfüllen mich seit meiner frühen Jugend mit tiefer Sorge. Ich bin deshalb sehr, sehr froh, dass wir mit Nancy Faeser eine Innenministerin haben, die diese Netzwerke endlich ernst nimmt. Die Aufdeckung dieser Verschwörung rechtsradikaler Reichsbürger mit aktiven und ehemaligen Soldaten ist insofern ein großer Erfolg der Sicherheitsbehörden. Erschreckend ist aber auch, dass eine menschenfeindliche Partei wie die AfD, die über beste Verbindungen in die rechtsradikale Szene verfügt, bei Wahlen eine solche Zustimmung erhält. Da sind wir gefordert, auch in der Demokratieerziehung.
Gehört der Rauswurf von Gerhard Schröder aus der SPD zu einem Ihrer guten Vorsätze fürs neue Jahr?
Ich habe Gerard Schröder bereits vor Monaten empfohlen, die SPD zu verlassen. Er ist bei uns nicht mehr zu Hause.
 
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