3. November 2025 - 15.34 Uhr
Akt.: 3. November 2025 - 15.35 Uhr
Die größte Stadt SüdamerikasSão Paulo ist für die einen ein Paradies – und für die anderen ein Monster
São Paulo hat keinen Anfang und kein Ende. Am besten ist es, die Erkundung der Stadt in der Nähe ihres pulsierenden Herzens zu beginnen. Die Avenida Paulista ist eine von Autos verstopfte Hauptschlagader mit einigen Einkaufszentren und Kunsttempeln. Werktags zwängt sich eine Blechlawine durch die mindestens acht Fahrspuren, manchmal bringen Demonstrationen den Straßenverkehr zum Erliegen. Die Avenida Paulista mit ihren Bürotürmen, Banken und Firmensitzen sowie dem Santa-Catarina-Hospital kreuzt sich mit der Rua Augusta, die das Zentrum mit dem Viertel Jardins verbindet und die ein beliebter Hotspot des Nachtlebens von São Paulo ist. Für viele „Paulistanos“ oder „Paulistas“, wie die Bewohner dieses Molochs genannt werden, hat die Straße eine besondere Bedeutung. Der Autor dieser Zeilen wohnte hier vor 25 Jahren eine Zeit lang im elften Stock eines Wohnhauses, von dem nur die ersten zehn Stockwerke mit dem Lift erreichbar waren, in den elften gelangte man über eine Treppe ohne Geländer. Die Aussicht war phantastisch. Nachts die vielen Lichter, tagsüber ein Meer aus Beton.
Das Schicksal der „Nordestinos“
Ruth kam vor fast einem halben Jahrhundert als Kind mit ihrer Mutter aus Porto Seguro in Bahia nach São Paulo, so wie viele „Nordestinos“, Brasilianer aus dem Nordosten des Landes, die vor der Armut in den Südosten und Süden des Landes geflohen waren. „Mein Vater hatte sich früh aus dem Staub gemacht“, sagt sie. „Im wahrsten Sinne des Wortes, denn früher kamen viele aus dem Nordosten, weil die Dürren zu Missernten führten und viele Bauern ihre Landwirtschaft aufgaben. An der Küste warf die Fischerei nicht genug für alle ab.“
Kaum ein Schriftsteller hat die Armut der Nordestinos besser thematisiert als Graciliano Ramos in seinem meisterhaften Roman „Vidas Secas“ von 1938, der zyklischen Geschichte einer fünfköpfigen Familie. Unterdessen boomte in São Paulo die Industrie, sodass viele Brasilianer die Landflucht antraten und dorthin zogen. Auch die Familie des heutigen Präsidenten Lula da Silva gehörte dazu. Als siebtes von acht Kindern im nordöstlichen Bundesstaat Pernambuco geboren, kam Lula Anfang der 50er Jahre mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in den Industriegürtel im Süden von São Paulo. Als Zwölfjähriger arbeitete er als Botenjunge und Schuhputzer und in einer Wäscherei. Zur Schule ging er kaum. Sein Vater hatte die Familie verlassen, und Lula musste zum Lebensunterhalt der Familie beitragen. Später arbeitete er in einer Metallfabrik, absolvierte eine Ausbildung zum Facharbeiter in São Bernardo do Campo und schloss sich der Gewerkschaftsbewegung an. 1979 führte er, während der Militärdiktatur, einen großen Streik an, der ihm einen Monat Gefängnis einbrachte.
In unserer Heimat hatten wir Opa und Oma, Onkel und Tanten. Hier hatten wir niemanden.
Vor allem seit Mitte des vergangenen Jahrhunderts war São Paulo verstärkt Ziel von Binnenzuwanderern geworden. Sie träumten davon, in der expandierenden Industrie oder im Bausektor Arbeit zu finden. Der Ballungsraum wuchs weiter. „Ich habe es meiner Mutter lange nicht verziehen, dass sie uns hierher brachte“, erinnert sich Ruth. „In unserer Heimat hatten wir Opa und Oma, Onkel und Tanten. Hier hatten wir niemanden.“ Ihre Mutter sei in der neuen Umgebung nicht wirklich zurechtgekommen, mit der Erziehung ihrer vier Kinder war sie überfordert. Ein Job folgte dem anderen, manchmal hatte sie drei gleichzeitig. Psychische Probleme folgten. „Ich war damals fast auf die schiefe Bahn geraten“, erzählt Ruth. „Wenn ich nicht von einem Stadtteilprojekt gehört hätte, das jungen Frauen eine Chance gab.“ Sie wurde Friseurin und begann in einem Salon in der Rua Augusta zu arbeiten. Heute leitet die Endfünfzigerin den Betrieb.
Rua Augusta
Auch Leandro Roque de Oliveira hat einen persönlichen Bezug zur Rua Augusta. Aus einer armen Familie stammend, war er als Rapper mit dem Namen Emicida, einem Kofferwort aus MC und „Homicida“, schon einige Zeit ein aufstrebender Star, als wir uns kennenlernten. Er war für seine improvisierten Reime bekannt, was ich bei einem seiner Spontanauftritte in der kapverdischen Hauptstadt Praia erlebte, als er zusammen mit einem Chor kapverdischer Frauen ein Ständchen gab. Wir kamen miteinander ins Gespräch, unterhielten uns lange über brasilianische Musik und über São Paulo – und er schenkte mir sein damals neuestes Album „O Glorioso Retorno de Quem Nunca Esteve Aqui“, sein erstes Studioalbum, das auf Deutsch etwa „Die glorreiche Rückkehr eines, der nie hier war“ heißt. Typisch für Emicida ist bis heute, dass er verschiedene Rhythmen und Stile in seinen Songs miteinander mischt, etwa Samba und aus dem Nordosten Maracatu und Forró. Ein besonders eindrucksvoller Song von Emicida ist „Rua Augusta“, in dem er von einer alleinerziehenden Mutter singt, die auf der Straße als Prostituierte anschaffen geht.
Zehn Jahre älter als Emicida ist Kleber Cavalcante Comes, besser bekannt als Criolo, 2011 mit dem Lied „Não existe amor em SP“ berühmt geworden, das im selben Jahr zum besten Lied Brasiliens gewählt wurde: „Es gibt keine Liebe in São Paulo. Ein mystisches Labyrinth, wo Graffiti schreien. (…) São Paulo ist ein Blumenstrauß. Blumensträuße sind tote Blumen in einem schönen Arrangement. Ein wunderschönes Arrangement, nur für dich gemacht.“ Das Lied sang er bei der Auszeichnung zusammen mit Caetano Veloso. Wenn es heißt, „wo Graffiti schreien“, dann sei erwähnt, dass die brasilianische Graffiti-Szene, und vor allem die aus São Paulo, eine besondere Tradition hat, die ihren Anfang in den 60er Jahren nahm und deren Kunst als Symbol des Widerstands gegen die Militärdiktatur und Unterdrückung diente. Das sogenannte Pichação, auch „Pixação“ geschrieben, wird fast ausschließlich in Brasilien praktiziert. Es erinnert an Runen und ist nicht leicht zu entziffern. Die Pichos sind an hohen und fast unzugänglichen Stellen angebracht. Berühmt wurden etwa die Brüder Otávio und Gustavo Pandolfo als Os Gémeos. Die Graffiti in dem für São Paulo typisch kryptischen Stil haben den Hochhausdschungel belebt, so wie der Parque Ibirapuera für die Einwohner eine Art grüne Lunge und Oase in einer Wüste aus Beton und Abgasen ist.
Vorläufige Hölle
Die Gegensätze zwischen dem Luxus und Reichtum derer, die einen Helikopter als Taxi benutzen und in den Gated Communitys, abgeschirmt hinter Mauern und bewacht von einem privaten Sicherheitsdienst, leben und den unzähligen Obdachlosen, die etwa auf der Praça da Matriz vor der Kathedrale schlafen, hat die aus São Paulo stammende Schriftstellerin Patricia Melo in ihrem Roman „Menos que Um“ (2022, auf Deutsch „Die Stadt der Anderen“) beschrieben. Bei Luiz Ruffato hingegen werden die unendlich vielen Stimmen der Stadt sowie das eklatante Nebeneinander von Armut und Reichtum zu einem kakophonischen Chaos. Auch der 1961 in Bundesstaat Minas Gerais geborene Autor kam von der ländlichen Provinz in die Metropole. Er arbeitete zunächst unter anderem als Verkäufer und Schlosser. Gleichzeitig studierte er Journalismus und arbeitete in dem Beruf, bis er sich ganz auf die Schriftstellerei konzentrierte. In dem Romanzyklus „Inferno provisório“ (Vorläufige Hölle) erzählt er von brasilianischen Arbeitern, Migranten und Binnenmigranten.
In seinem ersten, 2001 erschienenen Roman „Eles eram muitos cavalos“ (Es waren viele Pferde) beschreibt Ruffato in 69 aneinandergereihten Miniaturen, kurzen Fragmenten, Dialogfetzen, inneren Monologen ein heterogenes Stimmengewirr, unterbrochen von Gedichten, Listen, Speisekarten und Annoncen, ohne eine feste Erzählinstanz und wiederkehrende Figuren, einzelne Episoden aus einem großen Chaos aus Eindrücken, wenn etwa eine Frau Wäsche aufhängt und „die rosafarbenen Klammern die Einsamkeit des kleinen betonierten Hinterhofes kneifen“. Ruffato hat für die Metropole São Paulo eine Sprache gefunden, deren Worte und eine Form dafür gefunden, ein mäanderndes Ungetüm, das in seinen Details nicht zuletzt auch eine gewisse Schönheit birgt.
Ewiges Spannungsfeld
Seine Heimatstadt sei ein ewiges Spannungsfeld, das ihn kreativ mache und ohne das er nicht leben könne, sagte einmal João Francisco Benedan, eher bekannt unter dem Künstlernamen João Gordo als Fernsehmoderator und Sänger der Punkband Ratos de Porão, dem ich sowohl in Brasilien, als er in einer Diskothek auflegte, wie auch in Deutschland begegnete, als er mit seiner Band in einem ehemals besetzten Haus in Karlsruhe auftrat – und nicht zuletzt bei einem legendären Konzert im Hangar 110, DER Kultstätte des Punk von São Paulo. Wir hatten über die Wohnungslosigkeit in São Paulo diskutiert, die bis heute ein großes Problem darstellt. Aus einer Initiative gegen die Wohnungslosigkeit hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine ganze Bewegung entwickelt. Institutionell habe sich bis heute nichts geändert, bedauert João. Wir kamen bei unserem letzten Gespräch auch auf die omnipräsente Gewaltthematik zu sprechen. Selbstverständlich gebe es in São Paulo viel Gewalt, sagte er. Aber das sei doch in anderen brasilianischen Städten nicht anders. Wer aufpasst und Glück hat, könne in São Paulo relativ unbeschwert leben. Die Gewalt äußere sich, so João, zum einen in der Polizeigewalt, die sich gegen Arme und Schwarze richtet, zum anderen in der organisierten Kriminalität. Insbesondere das Primeiro Comando Capital (PCC), einst aus einem Gefängnisfußballteam entstanden, ist im Drogenhandel zu einer international agierenden Organisation geworden, und zum politischen Machtfaktor in Brasilien. Andererseits ist gerade die Kriminalität in der Millionenmetropole im Vergleich zu anderen Großstädten des Landes in den vergangenen Jahren zurückgegangen, so auch die Mordrate, sodass São Paulo mittlerweile zu den eher sicheren Städten gehört, solange man die allgemeinen Sicherheitsregeln einhält.
Die Stadt kann grausam sein, aber sie pulsiert ständig, ist immer in Bewegung, kulturell und ökonomisch
„São Paulo lebt von den Klischees und kokettiert mit ihnen“, sagt Leticia. „Die Stadt kann grausam sein, aber sie pulsiert ständig, ist immer in Bewegung, kulturell und ökonomisch.“ Sie zitiert einen befreundeten Dirigenten, der einmal sagte, São Paulo sei eine „Sinfonie nicht in Dur oder Moll, sondern in Beton“. Die Mittfünfzigerin hat in der Stadt Psychologie studiert und sich dort als Psychologin niedergelassen. Geboren und aufgewachsen ist sie im Süden des Landes, in Rio Grande do Sul. „Die Paulistas schätzen die Vorteile ihrer Großstadt, und wenn sie es sich leisten können, fahren sie übers Wochenende an die Küste“, sagt sie. Ein wichtiges Ausflugsziel ist die Ilhabela, die „schöne Insel“, ein Mekka der Surfer und Strandurlauber, das mit einer Fähre vom drei Kilometer entfernten São Sebastião zu erreichen ist. „Sie ist schöner als Ipanema“, sagt Leticia, wohlwissend, dass die Paulistas und Cariocas, die Bewohner von Rio de Janeiro, immer Rivalen bleiben werden. Sie nutzt die Gelegenheit für den Wochenendurlaub häufig. Leticia ist sich aber auch bewusst, dass im Seehafen von São Sebastião Tankschiffe für die Raffinerien des halbstaatlichen Ölkonzerns Petrobras abgefertigt werden. Das Wachstum von São Paulo hat nicht zuletzt dazu geführt, dass der Ballungsraum unter einer gigantischen Luftverschmutzung – zum größten Teil aufgrund der Belastungen durch den Straßenverkehr – und einer Belastung der Gewässer leidet, und dass die beiden Hauptflüsse Tietê und Pinheiros biologisch tot sind.
Einerseits, andererseits
„Einerseits hat die Regierung Lula mit der COP30 in Belém die Chance, sich als Stimme des globalen Südens und als Verteidigerin des Amazonas zu profilieren“, sagt die Psychologin. „Andererseits setzt es nach wie vor auf fossile Energien. Verrückt!“ Die jüngste Entdeckung eines riesigen Erdöl- und Gasvorkommens vor der Küste im Santos-Becken zeigt den Widerspruch zwischen den Klimaversprechen und der innen- und wirtschaftspolitischen Strategie der Regierung. Den Zuschlag für die Bohrlizenzen ging außer an Petrobras an Ölriesen wie zum Beispiel Exxon und den chinesischen Konzern CNPC. Ein Widerspruch, der von São Paulo bis Belém hallt.
De Maart













Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können