Dienstag21. Oktober 2025

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Wahlen in DeutschlandRechts der Mosel: Wie Carsten Becker die saarländische AfD in die Bundestagswahl führt

Wahlen in Deutschland / Rechts der Mosel: Wie Carsten Becker die saarländische AfD in die Bundestagswahl führt
Carsten Becker tritt im Wahlkreis Saarlouis an, dem Wahlkreis, der auch an Luxemburg grenzt Foto: Editpress/Julian Dörr

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Die AfD an der Saar ist ein von Machtkämpfen zerrütteter, loser Zusammenschluss diverser Seilschaften. Doch bei der Bundestagswahl kann sie in einigen Kommunen zum ersten Mal stärkste Kraft werden. Der erste Teil unserer Reportage-Reihe aus dem Wahlkampf hinter der Grenze.

Vor fünf Jahren hätte er noch herausfliegen können. Jetzt steht Carsten Becker auf Platz eins der saarländischen Landesliste der „Alternative für Deutschland“ (AfD). Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird der gelernte Elektroniker aus Saarlouis am 23. Februar in den Deutschen Bundestag gewählt. Die AfD kommt in bundesweiten Umfragen aktuell auf mindestens 20 Prozent. Becker ist bereits seit dem Gründungsjahr 2013 Parteimitglied. 2015 unterzeichnet er die „Erfurter Resolution“, mit dem die rechtsradikale Strömung „Der Flügel“ um Bernd Höcke erstmals gegen die Parteiführung aufmuckt. Damals ist die AfD noch ein bunter Haufen enttäuschter Konservativer, Libertärer und rechter Aktivisten. In einigen Landesverbänden verlieren Funktionäre, die zu offen mit rechtsradikalen Akteuren wie der „Identitären Bewegung“ (IB) anbandeln, ihre Posten. Diese Zeiten sind heute vorbei.

Im August 2023 taucht Becker in einem Shirt der IB auf der Diskussionsveranstaltung einer Saarlouiser Schule auf. Zuvor schreibt er laut einer Recherche des Saarländischen Rundfunks (SR) Beiträge für die rechtsextremen Webseiten „info-direkt“ und „Heimatkurier“. Als es der AfD noch darum ging, den Schein einer konservativen Partei zu wahren, hätten solch eindeutige Sympathiebekundungen der Karriere ein jähes Ende bereitet. Doch die Partei greift schon lange nicht mehr durch. Als im Mai 2024 das „Sylt-Video“ mit seinen rassistischen Gesängen bundesweit für Aufschrei sorgt, wird es von einem Vorstandsmitglied der „Jungen Alternative“ zustimmend geteilt. Es folgt zwar offene Kritik einiger Parteifunktionäre, doch Becker bezeichnet den Gesang im „Sylt-Video“ gegenüber der Saarbrücker Zeitung als „spaßig“. Er gehört selbst gerne zu den Provokateuren. Ohnehin ist öffentliche Kritik an Parteikameraden in der AfD mittlerweile ebenso kalkuliert, wie die Provokationen selbst. Sie dient als Alibi und soll ein Verbot der Partei oder angelehnter Strukturen verhindern.

Machtkämpfe in der Saar-AfD

Die saarländische AfD ist ein loser Zusammenschluss diverser Seilschaften. Machtkämpfe haben den Landesverband seit Jahren im Griff. Egal, ob es um das Mitgliederverzeichnis, die Schiedskommission, Listenwahlen oder Kreisvorstände geht, es wird manipuliert und sabotiert. Kleinkriege, die Parteien lahmlegen, sind ein allzu saarländisches Phänomen. Auch Linke und Grüne zerfleischen sich hier über Jahre hinweg, Polit-Patriarchen stellten ihre Machtansprüche stets über das Parteiinteresse. Einer davon ist Josef Dörr.

Bevor er zum Landesvater der saarländischen AfD aufsteigt, ist Dörr Mitglied bei den Grünen. Um Inhalte geht es schon damals nicht. Der Grünen-Patriarch Hubert Ulrich dominiert die Partei und schüchtert Kritiker gnadenlos ein. Sein Gehilfe Dörr lernt, wie man sich im Saarland eine Partei unter den Nagel reißt. Das System „Family & Friends“, wie die ehemalige AfD-Bundesvorsitzende Frauke Petry Dörrs Machtgebilde nennt, sieht seine erste Anwendung in Ulrichs Grünen. Dass Dörr von Anfang an mit Figuren der saarländischen Naziszene redet und auf eine Vereinigung rechtsradikaler Kräfte hofft, schadet ihm in der AfD nicht wirklich. Eine Recherche des Stern macht die Umtriebe öffentlich. Daraufhin strebt der Bundesvorstand der Partei die Auflösung des Landesverbands an, scheitert jedoch an dem damals schon von Rechtsradikalen dominierten Bundesschiedsgericht.

Glossar

Identitäre Bewegung: eine Gruppierung neu-rechter und rechtsextremer Aktivisten in Deutschland und Österreich. Die Bewegung hat ihren Ursprung in Frankreich. Der bedeutendste Unterschied zu traditionell nationalistischen Rechtsextremen: Die Identitären vertreten die Theorie des sogenannten „Ethnopluralismus“, der Ethnien nicht nach biologischen Kriterien, sondern nach Zugehörigkeit zu einem Kulturkreis definiert. Sie gehen dabei von einer homogenen „europäischen Kultur“ aus, die es z.B. vor Islamisierung zu verteidigen gilt. Der wissenschaftliche Konsens lautet: Ethnopluralismus ist Rassismus in neuem Gewand.

Burschenschaften: national-konservative Studentenverbindungen, die sich auf die Grundsätze „Ehre, Freiheit, Vaterland“ der 1815 bei Jena gegründeten Urburschenschaft beziehen. Fast alle Burschenschaften nehmen ausschließlich Männer und deutsche Staatsbürger auf. In Deutschland gibt es mehr als 1000 Studentenverbindungen, ein Viertel davon sind Burschenschaften. Immer wieder tauchen einzelne Burschenschaften wegen ihrer Verbindungen zu Rechtsextremisten in den Verfassungsschutzberichten deutscher Bundesländer auf.

Der Bundestagsabgeordnete Christian Wirth, der mit Becker und Dörr eine langjährige Feindschaft pflegt, kommt aus der anderen Ecke des rechtsradikalen Spektrums, der Burschenschaft „Ghibellinia zu Prag“. Die „Ghibellinia“ hofiert bekannte Neonazis und IB-Funktionäre. Einige ihrer Mitglieder waren im Jahr 2020 bei einer Prügelattacke auf eine jüdische Person involviert. Auch gegen den Vorsitzenden der saarländischen „Jungen Alternative“, Nicolas Benyoucef, wurde in dieser Hinsicht ermittelt, eine Tatbeteiligung konnte nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden. Bei der „Ghibellinia“ geben sich rechtsradikale Gewalttäter mit führenden saarländischen Persönlichkeiten die Klinke in die Hand. Auch der aktuelle CDU-Spitzenkandidat Roland Theis ist ein Freund des Hauses, bis er mit dessen nationalsozialistischer Geschichte konfrontiert wird und von nichts gewusst haben will. Ex-FDP-Mitglied Christian Wirth hat über die Burschenschaft beste Kontakte in die saarländische Politik.

Im Oktober 2022 gelingt es Becker, Wirth als Landesvorsitzenden abzulösen. Seitdem folgt im Machtkampf gegen Wirth und Dörr eine absurde Geschichte auf die nächste. Beckers Landesvorstand regiert diktatorisch, setzt beliebig Funktionäre ab, legt Schiedsgerichte lahm. Bei der Landtagswahl 2022 erringt Becker ein Mandat. Das Verhältnis zu Dörr gilt als zerrüttet, eine Landtagsfraktion muss dennoch gebildet werden. Der AfD-Bundesvorsitzende Tino Chrupalla reist an, um einen Deal auszuhandeln. Dörr bleibt Fraktionsvorsitzender, muss den Posten allerdings zur Hälfte der Legislaturperiode räumen. Dann, so die Vermutung, soll Becker übernehmen. Dem SR sagt Josef Dörr heute, er und Becker arbeiteten seit dem Deal „vertrauensvoll und kameradschaftlich zusammen“. Doch noch vor einem Jahr bekriegen sich die Lager, als es um die Aufstellung der Saarbrücker Kommunalwahllisten geht. Beckers Landesvorstand setzt Dörr und seinen Verbündeten Rudolf Müller als Kreisvorsitzende ab und lässt seine Vertrauten in der Schiedskommission das Gremium kapern. Der Machtkampf mit dem Dörr-Lager endet damit, dass die AfD in Saarbrücken nicht zur Wahl antritt.

Einst zu rechts, jetzt oben angekommen

Die Harmonie, die Dörr heute bekundet, entspringt wohl einer günstigen Wendung im Fraktionsvorsitz-Deal. Wenn Becker in den Bundestag einzieht, kann Dörr Vorsitzender bleiben. Um die Konkurrenz auf Landesebene loszuwerden, half er wohl dabei, die Mehrheit für Beckers obersten Listenplatz zu organisieren. Damit schlägt Josef Dörr zwei Fliegen mit einer Klappe. Der aktuelle saarländische AfD-Mandatsträger und Dörrs Erzfeind Wirth verliert mit dem Mandat seine letzte reale Macht im Landesverband. Der Patriarch hat es mal wieder geschafft.

Von Flügelkämpfen ist auf Bundesebene der AfD schon des Längeren nichts mehr zu hören. Beckers politische Heimat „Der Flügel“ löst sich im Mai 2020 auf, um einer Beobachtung der Gesamtpartei durch den Verfassungsschutz zuvorzukommen. Doch die Mitglieder bleiben und jagen alle vom Platz, die sich für das öffentliche Paktieren mit Neonazis zu schade sind. Im Januar 2025 kürt ein Parteitag die Bundesvorsitzende Alice Weidel zur Kanzlerkandidatin. Von einer Wahl kann keine Rede sein, die Abstimmung geschieht per Akklamation. Das Ergebnis ist einstimmig, die AfD hat die Reihen geschlossen. „Alles für Deutschland“, skandiert der Saal auf diesem Bundesparteitag. Die Parole und ihre Bedeutung sind jedem hier bekannt. Einst brüllten sie die Mörderbanden der „Sturmabteilung“ (SA) der NSDAP. Da der Ruf als „Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ verboten ist, hat die AfD ihren Delegierten Schilder in die Hand gedrückt. „Alice für Deutschland“, steht darauf. Ein Hohn auf die Justiz und die Lehren aus der Nazizeit. „Dann heißt es eben Remigration“, ruft Weidel im Moment des Triumphs und droht allen Immigranten, ihren Kindern und Enkeln mit der Vertreibung aus ihrer Heimat.

Die volksfestartige Ausgelassenheit, mit der auf AfD-Veranstaltungen gehetzt wird, erinnert auch ohne Nazi-Parolen an Reichsparteitage. In der AfD kann jeder zum Held werden, wenn er sich nur der kollektiven Enthemmung anschließt. Carsten Becker macht mit. Er ist ein wahrer Repräsentant der „Alternative für Deutschland“, er ist ihr bestmöglicher Kandidat. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte könnte die AfD in einigen saarländischen Kommunen stärkste Kraft werden. In Neunkirchen, zum Beispiel, Friedrichsthal, Sulzbach oder Völklingen. Alles einst tiefrote Gemeinden, ehemalige SPD-Hochburgen, Arbeiterstädte. 

In Beckers politischem Werdegang spiegelt sich der seiner Partei. Ehemals zu rechts für das Establishment, jetzt oben angekommen. Oft galt er schon als angezählt, doch letztendlich hat sich Becker immer gegen die Konkurrenz durchgesetzt. Er hat seiner eigenen Partei mehr als einmal schweren Schaden zugefügt und gelang durch die Fehler der anderen an die Spitze. Wenn es nach den deutschen Wählern geht, bekommt dieser Mann bald eine Mitarbeiterpauschale von knapp 26.000 Euro monatlich, um seine Freunde von der „Identitären Bewegung“ mit Jobs zu versorgen.