Psychologin warnt vor dem „Vergewaltiger in der Hosentasche“ – und zeigt, wie man sich wehrt

Psychologin warnt vor dem „Vergewaltiger in der Hosentasche“ – und zeigt, wie man sich wehrt

Jetzt weiterlesen! !

Für 0,59 € können Sie diesen Artikel erwerben.

Sie sind bereits Kunde?

„Wir müssen kapieren, dass es keine hohle Theorie ist und er mitten unter uns ist“, sagt die Psychologin Julia von Weiler*. Sie kämpft mit dem Verein Innocence in Danger gegen die „Vergewaltiger in der Hosentasche“ und die Verbreitung kinderpornografischer Inhalte im Netz. Im Oktober spricht sie darüber in Luxemburg. Daisy Schengen erklärte sie vorab, wie Täter Macht auf ihre Opfer ausüben, warum das Smartphone dabei zu ihrer „ultimativen“ Waffe wird und wie Eltern ihren Kids das richtige Rüstzeug mitgeben, damit diese sich nicht nur im Netz gegen Pädophile wehren können.

Julia von Weiler (Foto) will Kinder und Jugendliche vor den Gefahren im Netz schützen. Ständig ist sie mit ihrem Team unterwegs, um Vorträge zu halten und darüber aufzuklären, dass die Gefahr von Kindesmissbrauch tatsächlich gegeben sei – und zwar „mitten unter uns“. Es ist daher gar nicht so einfach, einen Interviewtermin mit der Vereinsvorsitzenden von Innocence in Danger festzulegen. An einem Dienstagmorgen ist es so weit. Julia von Weiler hat gerade eine Besprechung hinter sich, die „etwas länger“ dauerte, sagt sie entschuldigend.

Ohne Umschweife geht es los. Was hat sich in den letzten Jahren sowohl auf der Opfer- als auch auf der Täterseite im Zusammenhang mit „sexuellem Missbrauch“ geändert? „Die größte und nachhaltigste Veränderung, die seit 2003, als unser Verein seine Arbeit aufnahm, stattgefunden hat, ist die Erfindung des iPhone“, erklärt die Psychologin.

2007 kam es auf den Markt, seitdem wuchs die Zahl der „schlauen Telefone“. Inzwischen stellen sie „für Täter und Täterinnen das ultimative Tatmittel“ dar, das ihnen erlaubt, „von überall Zugriff auf die Opfer zu haben.

Die zweite Entwicklung, die dem Missbrauch eine neue Dimension gibt und ihn bedeutend verschärft hat, ist die sogenannte „Live-Chat-Vergewaltigung“. Dabei werden Kinder von den Tätern und Täterinnen dazu motiviert, sich vor der Kamera auszuziehen und sexuelle Handlungen an sich vorzunehmen, berichtet die Psychologin.

Gleichzeitig kann das Smartphone zur Gegenwehr benutzt werden. Opfer können sich mit anderen Betroffenen „vernetzen und sich gegenseitig unterstützen“. Eine der Kernbotschaften, die Von Weiler mit Nachdruck betont: Die Opfer sind den Tätern keinesfalls hilflos ausgeliefert.

Machtwerkzeug

Dass Täter in einer bestimmten Gesellschaftsschicht oder -randgruppe zu suchen sind, ist reiner unhaltbarer Vorurteil. „Tatsächlich gibt es Täter und Täterinnen überall. In erster Linie geht es ihnen um Macht. Die sexuelle Handlung ist nur ein Mittel, mit dem ich Macht und Dominanz ausübe.“ Leider wird die Täterlogik von der Gesellschaft missverstanden. Die Menschen hielten sich zu sehr an der Beschreibung „sexuell“ in Bezug auf Missbrauch fest und verleihen dadurch diesem Tatbestand „etwas Einvernehmliches, Verniedlichendes“, kritisiert die Psychologin.

Sorgen machen müsse man sich, wenn ein Mann oder eine Frau aus dem näheren Umfeld seine/ihre Macht missbraucht, in dem er/sie andere fertig- oder sexistische Bemerkungen über Dritte macht. Das bedeute nicht zwangsläufig, dass es sich in diesem Fall um einen Täter oder eine Täterin handelt. „Dennoch müssen wir als Gesellschaft bei jeder Form von Machtmissbrauch aufmerksam sein und Mut beweisen!“

Hat man im Falle eines unbekannten Kindes Zweifel und denkt, dass etwas nicht stimmt, dann soll man nicht abwarten, sondern sein Bauchgefühl ernst nehmen und handeln, ermutigt die Expertin. Es könnte sich in der Tat um eine „Gewaltproblematik oder auch um sexualisierte Gewalt“ handeln.

Dennoch sollte die erhöhte Wachsamkeit nicht gleich in Hysterie überschlagen. „Suchen Sie sich Hilfe, um das Problem einzuordnen und dem betroffenen Kind zu helfen!“ Kinder in Not, erläutert die Psychologin, bräuchten Erwachsene, denen sie sich anvertrauen, die sie unterstützen und ihnen helfen. Wenn die Erwachsenen nicht in Stress geraten, sondern gezielt aus der Vielfalt der Beratungsangebote die richtigen wählen, dann gebe dies dem Kind ein Gefühl von Sicherheit.

„Täter sind überdurchschnittlich intelligent, Akademiker, berufstätig“

Dennoch müssen junge Menschen und auch ihr Umfeld besonders gut achtgeben. Denn „Täter sind äußerlich nicht erkennbar“. Wie man sie möglicherweise erkennen könnte? „Gar nicht“, schickt sie voraus und ist sichtlich amüsiert über die verdutzte Reaktion ihres Gegenübers.

Doch die Leichtigkeit des Moments verwandelt sich blitzartig in Schockstarre, als die Expertin aus der Beschreibung australischer Strafverfolgungsbehörden über die „Konsumenten von Missbrauchsdarstellungen (Männer und Frauen)“ zitiert: „Der typische Täter ist leicht überdurchschnittlich intelligent, in einer festen Beziehung lebend, nicht vorbestraft, mit einem akademischen Abschluss und berufstätig.“

Keine eindeutigen Signale

Nun ist es nicht unbedingt so, dass betroffene Kinder von sich aus auf ihre Probleme aufmerksam machen. „Je jünger die Opfer sind, desto weniger sprechen sie explizit über das Erlebte. Es gibt nicht das eine Symptom, das auf sexuelle Gewalt hinweist. Manche Kinder werden depressiv, ziehen sich zurück, andere werden aggressiv, schlecht in der Schule, wiederum andere schreiben plötzlich gute Noten.“

Über sexuelle Gewalt zu sprechen, so Von Weiler, falle allen Beteiligten extrem schwer. Ein wichtiger Grund dafür sieht sie bei den Erwachsenen, die selbst den Gedanken an (sexuelle) Gewalt zulassen müssten, bevor ein Dialog mit dem Kind möglich ist: „Wenn wir diesen Gedanken nicht denken können, dann werden wir die Andeutungen der Kinder nicht verstehen“, mahnt die Expertin. Zumal die Vermutung um ein Opfer auch die Vermutung um einen möglichen Täter voraussetze.

Kinderpornografie: 34 Ermittlungen 2017 in Luxemburg

Im vergangenen Jahr hat die Polizei in 34 Fällen wegen Kinderpornografie in Luxemburg ermittelt. Das haben Justizmister Félix Braz („déi gréng“) und Etienne Schneider (LSAP), Minister für Innere Sicherheit, in einer Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mitgeteilt. In wie vielen Fällen sich der Verdacht bestätigt hat, konnten beide nicht sagen, da die Verfahren noch nicht abgeschlossen sind. Als neuer internationaler Trend der Kinderpornografie gilt laut Unicef der sogenannte Cybersex mit Kindern: Minderjährige werden gezwungen, sich vor einer Webcam auszuziehen oder Sex mit Erwachsenen zu haben, während Kunden auf ihren Bildschirmen im Internet dabei zusehen. Die Minister teilten jedoch mit, dass sich unter den 34 Ermittlungsfällen kein Fall von pädophilem Cybersex befindet.


 

Das Internet macht das „Grauenvolle“ möglich

Ob Missbrauch am Spielplatz oder im Netz: Beide Welten – digital und analog – ließen sich nicht mehr trennen, gibt Von Weiler zu bedenken. Eine bestimmte Form von sexueller Gewalt existierte vor dem Vormarsch der digitalen Medien dennoch so nicht: der über Live Chats. „Beim sogenannten ‚Live-Stream-Missbrauch‘ manipuliert der Täter oder die Täterin die Kinder, damit diese sexuelle Handlungen an sich vornehmen“, beschreibt die Psychologin.

Darüber hinaus hat das Team um Julia von Weiler den Begriff der „Sharegewaltigung“ geprägt. Dabei werden die Kinder unter Druck gesetzt, um von ihnen intime Bilder zu machen. Oder aber private sexuelle Bilder werden an Dritte weitergegeben – ohne das Wissen der Betroffenen. Diese beiden Gewaltformen gab es vorher bestimmt schon. Aber das Ausmaß und die Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen sind exorbitant in die Höhe geschnellt. Insbesondere weil das Internet auch das „Grauenvolle“ möglich mache, stellt Von Weiler fest.

Langzeit-Traumata

Egal ob digital oder anlog: Sexueller Missbrauch kann unabhängig von der Tatumgebung schwerwiegende Folgen für die Betroffenen haben. Julia von Weiler zitiert aus einer gerade veröffentlichten Studie aus Schweden, woran 2.500 Jugendlichen teilnahmen. Die Forscher stellten fest, dass „die traumatischen Auswirkungen für die Psyche bei einem Online-Vorfall genauso schwerwiegend sind, als wenn der Missbrauch analog stattgefunden hätte“.

Was können Eltern tun?

„Eltern sollten diesen furchtbar schmerzlichen Gedanken zulassen. Ich weiß, dass die Vorstellung, dass meinem Kind sexuelle Gewalt angetan wurde, so ziemlich das Letzte ist, wofür ich mich öffnen möchte“, versteht sie die Sorgen aus dem nächsten familiären Umfeld.

Eltern sollten ihre Kinder altersentsprechend aufklären und ihnen aufzeigen, dass sie zu bestimmten Spielen und Berührungen Erwachsener oder anderer Kinder „Nein“ sagen dürfen.

Eine gute Hilfe sind Kinderbücher zum Thema. „Damit signalisiert man den Kindern, dass es solche Menschen gibt und wenn sie mit den Fremden Stress haben, dürfen sie gerne zur ihrer Vertrauensperson kommen.“

Gleichzeitig raten die Experten dazu, „eine Art Erwachsenen-Sicherheitsnetz“ um das Kind zu spannen. Gemeinsam mit ihnen sollte man sich überlegen, im Notfall, wenn sie nicht mit ihren Eltern über das Erlebte sprechen wollen, weil sie sich schämen oder Angst haben, lieber zu „Oma Lieselotte oder Onkel Fritz“ zu gehen und sich ihnen anzuvertrauen. „Wichtig ist: Kinder sollten, je älter sie sind, lernen, alle Körperteile richtig zu benennen und über Gefühle sprechen zu können.“

Finger weg vom Smartphone

Geht es nach den Kinderschützern von „Innocence in Danger“, sollten Kinder unter 14 Jahren keinen Smartphone besitzen. Vor diesem Alter können sie nicht wirklich die „komplexe Kommunikation“ in vollem Umfang beherrschen, heißt es.
Bekommt das Kind früher ein Smartphone, dann sollten die Eltern ihm erklären, dass bei dieser Kommunikationsart „schnell Missverständnisse entstehen und die Gespräche genauso schnell aus dem Ruder laufen können“, so Julia von Weiler.
In Sachen Apps sind die Ratschläge ähnlich: „Ich muss sie als Elternteil nicht wirklich beherrschen, aber wissen, worum es sich dabei handelt. (…) Wer früh beginnt, bei sich und bei seinem Kind dieses Bewusstsein zu schüren und zu stärken, der hat eine Chance, Dinge zu verändern und bereitet sein Kind darauf vor, sich im Notfall Hilfe zu holen.“

Tatort Netz

Der Kontakt zwischen Tätern und Opfern kommt sowohl über den verborgenen und nur wenigen Personen zugänglichen Teil des World Wide Web als auch im für jedermann einsehbaren Bereich des Internets, beispielsweise auf Twitter, Facebook und Snapchat, zustande. „Täter und Täterinnen nutzen alle ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, auch das Darknet. Darüber weiß man jedoch sehr wenig.“

Denn um in einschlägigen Täterkreisen aufgenommen zu werden, muss man eine sogenannte „Keuchheitsprobe“ bestehen, erklärt die Psychologin. Die Ermittler müssten theoretisch selbst kinderpornografisches Material liefern. Das ist den Behörden in Deutschland derzeit untersagt. Das könnte sich aber bald ändern. Leider, zitiert Von Weiler aus Justizkreisen, sind Schläge gegen solche kinderpornografische Netzwerke „nur die absolute Spitze eines riesigen Eisbergs, dessen Ausmaß wir gar nicht kennen“.

Aber es gibt Fortschritte im Kampf gegen die Täter im Netz. Das „Canadian Center for Child Protection“ hat eine Software entwickelt, die „mit der Foto-DNA polizeibekannter Missbrauchsdarstellungen versehen“ ist und das Netz nach diesen Darstellungen absucht. Pro Tag, berichtet Von Weiler, verschickt die Software über 700 „Notice-and-Takedown“-Mitteilungen. Diese dienen dazu, dokumentierten sexuellen Missbrauch zu beseitigen.

„Der Missbrauchsausmaß ist erschreckend gigantisch“, bringt es die Psychologin auf den Punkt – und berichtet von einer Mutter und ihrer Tochter aus den USA, wo die Software im Einsatz ist. Die Tochter wurde vom Vater missbraucht, er stellte die Bilder ins Netz. In den folgenden zehn Jahren nach der Befreiung der jungen Frau aus der Gefangenschaft ihres Vaters bekamen Mutter und Tochter rund 250.000 solcher Mitteilungen. Diese zeigten, dass Missbrauchsdarstellungen der jungen Frau rund eine Viertelmillion Mal auf Computern weltweit gefunden worden sind. Darunter bei zwei Tätern, die nur wenige Straßen von ihr entfernt wohnten.

Der Verein

Innocence in Danger („Unschuld in Gefahr“) ist eine Nichtregierungsorganisation und Teil eines internationalen Netzwerks mit Aktionszentren in Deutschland, der Schweiz, Österreich, den USA, Frankreich und Großbritannien. Die weltweite Bewegung setzt sich seit mehreren Jahren gegen den sexuellen Missbrauch von Kindern und gegen die Verbreitung von pornografischen Inhalten im Netz ein. In Deutschland ist der Verein seit 2003 aktiv, international seit 1999.

Vortrag in Luxemburg

Julia von Weiler ist Gastrednerin bei der „Ersten internationalen Traumapädagogik Konferenzwoche„, die das SOS Kannerduerf Lëtzebuerg vom 15.-19. Oktober in der Abtei Neumünster organisiert. In ihrem Vortrag spricht sie über die „Digitale Nabelschnur und ihre Bedeutung zum Thema Traumatisierung von Kindern/Jugendlichen“. Die Konferenz ist für Fachleute und interessierte Besucher offen.