EditorialNaïveté ade: Desinformationskampagnen zwingen zu kritischem Balanceakt

Editorial / Naïveté ade: Desinformationskampagnen zwingen zu kritischem Balanceakt
Balanceakt zwischen gesunder Skepsis und Kalter-Kriegs-Paranoia: Wo steckt überall Russland dahinter? Foto: Stringer/AFP

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Es ist gerade mal ein paar Monate her, da war Paris in Panik. Nicht nur das politische Paris, der Elysée-Palast. Nein, ganz Paris. Und zwar wegen Bettwanzen. Eine Plage biblischen Ausmaßes war im vergangenen Herbst scheinbar über die Stadt hereingebrochen. Bettwanzen waren angeblich überall: in den Betten der Hotels, in den Sitzritzen der Metro. Sie waren Gesprächsthema Nummer eins, Medien berichteten, Leute suchten ihre Matratzen nach Spuren der Schädlinge ab, Kammerjäger füllten ihre Auftragsbücher. Und über all dem hing wie ein Damoklesschwert die Frage: Mon dieu, was soll nur aus den Spielen werden? Wer kommt denn noch nach Paris, wenn es hier vor Ungeziefer wimmelt?

Allein: Die biblische Bettwanzenplage, es gab sie nicht. Die Panik wurde geschürt und befeuert von russischen Social-Media-Accounts. Dieses Beispiel mag harmlos klingen, sogar amüsant. Ist es aber keineswegs. Denn dahinter steckt eine bittere Realität: Die Bettwanzen von Paris sind Teil eines hybriden Krieges. Eines Krieges, in dem sich der Westen schon länger befindet, als es den meisten Menschen bewusst ist.

In vielen westlichen Demokratien ist schon seit einiger Zeit die Rede von einem Kulturkampf, zwischen linken progressiven und rechten konservativen Kräften, polemisch zugespitzt: die Wokeness-Debatten. Sie werden ausgefochten in Feldern der Gesellschaftspolitik. Themen wie Geschlecht, Identität, Zugehörigkeit, (Anti-)Diskriminierung müssen immer wieder als Schauplatz herhalten. Ein innereuropäischer bzw. inneramerikanischer Konflikt, der nicht selten von Putins Russland angefacht wird. Sei es durch Wahlbeeinflussung, Social-Media-Trolle oder Unterstützung der evangelikalen Rechten. Alles, um die Spaltung westlicher Gesellschaften voranzutreiben und Demokratien zu destabilisieren.

So geht es schon seit Jahren. Allein die vergangenen Wochen und Monate: die Davidsterne an Pariser Hauswänden nach dem 7. Oktober – eine russische Kampagne. Der jüngste Cyberangriff auf Luxemburg – prorussische Hacker. Der Mord an einem russischen Deserteur in Spanien. Der flüchtige Wirecard-Manager Jan Marsalek entpuppt sich als russischer Spion. Ebenso der österreichische Polizeibeamte Egisto Ott. Das Nachrichtenportal „Voice of Europe“, über das Hunderttausende Euro aus Russland an europäische Politiker geflossen sein sollen. Geschichten wie aus dem Kalten Krieg. Man läuft Gefahr, zum Verschwörungstheoretiker zu werden, zu allzu einfachen Antworten zu greifen: „Da stecken bestimmt auch die Russen dahinter.“ Das Problem: Es stimmt so oft. 

Der Westen, seine Gesellschaft, seine Medien, seine Bevölkerung, sie alle sind deshalb zu einem kritischen Balanceakt gezwungen. Es ist an der Zeit, die Naivität abzulegen und der Realität ins Auge zu blicken. Wir befinden uns längst wieder in einem Krieg der Systeme, der mit Desinformationskampagnen, Spionage und verdeckter Einflussnahme geführt wird. Jedes Meme, jedes virale Video, jeder TikTok-Trend, jede Enthüllung muss kritisch hinterfragt werden. Wem nützt das? Wer steckt dahinter? Einerseits. Andererseits – und das ist der Balanceakt – darf die gesunde Skepsis nicht in Paranoia umschlagen. Nicht in falsche Verdächtigungen, nicht in zynischen Fatalismus, schon gar nicht in oft antisemitische Verschwörungserzählungen. Das ist nicht einfach. Vernunft und Verstand als Tugend reklamieren dieser Tage auch die Verblendeten (siehe Bündnis Sahra Wagenknecht). Versuchen müssen wir es, sonst hat Russland schon gewonnen.