Samstag15. November 2025

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ÖsterreichNach Grazer Amoklauf: Debatte um lasches Waffenrecht und Angst vor Trittbrettfahrern

Österreich / Nach Grazer Amoklauf: Debatte um lasches Waffenrecht und Angst vor Trittbrettfahrern
Trauer- und Beileidsbekundungen vor der Schule in Graz Foto: Erwin Scheriau/APA/AFP

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Auf den Amoklauf an einer Grazer Schule folgt in Österreich eine heftige Debatte über eine Verschärfung des Waffengesetzes – bis hin zu einem totalen Verbot für Privatpersonen.

Die Regierungsparteien halten sich noch sehr zurück. Zum einen aus Pietätsgründen, zum anderen wohl auch aus taktischem Kalkül beteiligen sich ÖVP, SPÖ und NEOS vorerst nicht an der Debatte, welche die Grazer Bürgermeisterin Elke Kahr noch am Tag des Grauens angestoßen hat. Wenige Stunden, nachdem der 21-jährige Artur A. in einem Grazer Oberstufengymnasium am Dienstag zehn Menschen und danach sich selbst erschossen hatte, war die Kommunistin für ein totales Waffenverbot eingetreten. Außer der Exekutive müsse niemand in Österreich Schusswaffen haben, findet Kahr. Die Grünen sehen das ähnlich. Auch sie befürworten ein Schusswaffenverbot für Privatpersonen, während die FPÖ eine Verschärfung des Waffengesetzes rundweg ablehnt.

Letztere stellt in der Steiermark, in deren Landeshauptstadt die Tragödie geschehen war, mit Mario Kunasek den Landeshauptmann. Dieser versucht den Spagat zwischen Parteilinie und dem wachsenden Druck aus der Bevölkerung, indem er auf Zeit spielt. Verschärfungen im Waffenrecht sollten zwar diskutiert werden, allerdings mit zeitlichem Abstand und ohne Emotion. Das sehen die Regierungsparteien ähnlich: ÖVP, SPÖ und NEOS wollten sich während der gestern zu Ende gegangenen dreitägigen Staatstrauer an keinerlei politischen Debatten beteiligen.

Breite Unterstützung

Derweil sammelt eine Bürgerinitiative bereits erfolgreich Unterschriften für eine Verschärfung des Waffengesetzes. 70.000 Österreicher haben bis gestern die Petition „Privates Waffenverbot jetzt!“ unterzeichnet. Initiator ist der Verein „Aufstehn“, der im vergangenen Jahr eine von vielen Prominenten unterstützte Kampagne gegen eine Regierungsbeteiligung der FPÖ ins Leben gerufen hatte. „Waffen gehören nicht in Wohnungen, nicht auf Straßen und schon gar nicht in Schulen“, heißt es im Aufruf zu der Petition. Und: „Es gibt keinen Grund, eine Schusswaffe für den privaten Gebrauch zu besitzen. Deshalb fordern wir ein sofortiges Waffenverbot für Privatpersonen.“

Tatsächlich ist der Erwerb von Waffen in Österreich relativ einfach. Jeder mindestens 18-jährige EU-Bürger mit Wohnsitz im Land, gegen den kein Waffenverbot verhängt wurde, kann bestimmte Schusswaffen nach mehrtägiger Wartefrist und Registrierung kaufen. Auch der für manche Waffenkategorien erforderliche Psychotest dürfte nicht das Gelbe vom Ei sein. Der Grazer Amokläufer war zwar aus psychischen Gründen untauglich für den Dienst an der Waffe beim Bundesheer, hat aber problemlos den psychologischen Test zum Erwerb seiner Schrotflinte bestanden.

Weil Waffen offenbar sehr einfach zu bekommen und viele Bürger von einem subjektiven Unsicherheitsgefühl geplagt sind, wächst die Anzahl der Waffen sukzessive. Derzeit besitzen die neun Millionen Österreicher insgesamt 1,5 Millionen Schusswaffen.

Mörder übte in Schützenverein

Ein totales Waffenverbot würde jedoch auf massiven Widerstand stoßen. Zwar gibt es in der Alpenrepublik keine mit der amerikanischen National Rifle Association (NRA) vergleichbare Lobbyorganisation, doch der Einfluss von Schützenvereinen und Jagdverbänden insbesondere auf die ÖVP von Bundeskanzler Christian Stocker ist auch nicht zu unterschätzen. Bei einem solchen traditionellen Schützenverein hat Artur A. übrigens den Umgang mit seinen Mordwaffen gelernt.

Wohl nicht nur die Staatstrauer hat die Regierungsparteien daher auf Schweigsamkeit setzen lassen. Die auf Friede, Freude, Eierkuchen getrimmte Dreierkoalition setzt seit drei Monaten auf Konfliktvermeidung. Auch die Grazer Tragödie soll die Regierung nicht in eine Zerreißprobe stürzen.

Also setzen die Regierungsparteien auf ein Abflauen der Emotionen, die jetzt in Richtung totales Waffenverbot drängen. Hinter den Kulissen soll schon an einem Kompromiss gearbeitet werden, der Sportschützen und Jäger nicht auf die Barrikaden bringt. Die Rechnung könnte aufgehen, wenn nicht eintritt, was den Sicherheitsbehörden derzeit Kopfzerbrechen bereitet: ein Anschlag eines Nachahmungstäters.

Diese Befürchtungen haben eine reale Basis. 1999 hatte erstmals ein Schulattentat in den USA weltweit für Aufsehen gesorgt. Zwei junge Männer hatten damals an der Columbine High School in einem Vorort von Denver zwölf Schüler, einen Lehrer und dann sich selbst erschossen. Viel wurde spekuliert über Mobbyingerfahrungen und Kränkungen der Täter. Die Ermittler bekamen jedoch nach und nach einen anderen Eindruck: Ein zentrales Motiv der Täter war, berühmt zu werden. Das ist ihnen gelungen. Mehr noch: Sie haben Nachahmer inspiriert. Den seither weltweiten Anstieg von School Shootings nennen Fachleute „Columbine-Effekt“.

„Columbine“-Risiko

Auch über Artur A. wurde schon am Tag der Tat über dessen mögliche Mobbyingerlebnisse spekuliert, ohne dass die Ermittler dafür bisher einen Anhaltspunkt gefunden hätten. Wenn es der Amokläufer auf einen maximal spektakulären Abgang angelegt haben sollte, dann war der Massenmord ein makaberer „Erfolg“. Seit Tagen beschäftigt sich Österreich in allen Facetten mit der Tragödie. Vom Bundespräsidenten abwärts haben alle Politiker ihr Beileid kundgetan. Und nicht nur das. Auch ausländische Spitzenpolitiker und sogar der Papst haben kondoliert. Mit Blick auf das „Columbine“-Risiko könnte diese nahezu globale Aufmerksamkeit kontraproduktiv sein, weil sie für psychisch kranke Jugendliche, etwa solche mit tatsächlich unbewältigten Kränkungen und/oder ausgeprägtem Narzissmus, eine Initialzündung bilden könnte.

Das bedeutet auch eine Gratwanderung für die Medien. Sie müssen bei der Befriedigung des Informationsbedürfnisses stets beachten, dass dessen böse Schwester Sensationslust heißt. Diese anzustacheln ist nicht Aufgabe verantwortungsbewusster Journalisten, auch wenn im immer stärkeren medialen Wettbewerb der Druck wächst, auch den Voyeurismus zu bedienen. Kaum ein Ereignis der vergangenen Jahre, mit Ausnahme des Ibiza-Skandals im Jahr 2019, hat in Österreich einen derartigen medialen Overkill ausgelöst wie das Grazer Schulmassaker. Etwas weniger Aufmerksamkeit für Artur A. und sein Verbrechen wäre neben einer Verschärfung der Waffengesetze auch ein Beitrag zu mehr Sicherheit.