ForumMehr Fernsehen – ein Rückblick auf die Anfänge der Programmvielfalt

Forum / Mehr Fernsehen – ein Rückblick auf die Anfänge der Programmvielfalt
 Foto: Pexels/Lany-Jade Mondou

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In „Dichtung und Wahrheit“ schrieb Goethe: „Das wirkliche Leben verliert oft dergestalt seinen Glanz, dass man es manchmal mit dem Firnis der Fiktion wieder auffrischen muss.“ Wer heute über Fiktion und Realität nachdenkt, wird unweigerlich auf die Qualität von Vermittlungsleistungen gelenkt, die wir einer Vielzahl von Verbreitungsmedien verdanken. Nicht selten verschwindet der Glanz, wenn dem dargestellten Geschehen auf den Grund gegangen wird.

Als vor 40 Jahren in Deutschland ein neues Medienzeitalter eingeläutet werden sollte, war die Metapher der Medien-Revolution mehrfach zu hören. In der Grenzregion Trier-Luxemburg kannte man damals gleichwohl bereits einen Hauch von Programmvielfalt. Das soziale Experiment mit mehr Fernsehen und Hörfunk sollte aber zunächst in Medienlaboren, sogenannten Kabelpilotprojekten, stattfinden. Die Grenzen dieser „Medienversuchsanlagen“ – von einer Expertenkommission empfohlen und in Berlin, Dortmund, München und der Region Ludwigshafen/Vorderpfalz realisiert – erwiesen sich schnell als offen.

Die Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks geriet durch anhaltende Debatten über die Ausgewogenheit der politischen Berichterstattung vermehrt unter Druck. Nach dem Zweiten Weltkrieg war dieses Modell von den Westalliierten zum Maßstab erklärt und föderal verankert worden. Staatsferne und Pluralismus sollten so gewährleistet sein. Mit dem ersten Rundfunkurteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1961 wurde dieses Leitprinzip unterstrichen, zugleich wurde die technische Knappheit von Übertragungsfrequenzen für Fernsehveranstaltungen als Grund für besondere Anforderungen im Bereich der Grundversorgung der Bevölkerung mit Information und Unterhaltung hervorgehoben.

Die deutsche Debatte gewann ihre Besonderheit aus einem Dualismus, der aus historischen Gründen den Wandel einer Rundfunklandschaft vor dem Hintergrund einer Medienordnung vollzog, die der Veranstaltung von Fernsehen und Hörfunk einen besonderen gesellschaftlich-politischen Auftrag zuschrieb. Eine andere, in diesem Fall private Trägerschaft wurde stets an verfassungsrichterlichen Grundsatzentscheidungen gemessen, die daher auch die Phase der Etablierung des privaten Rundfunks begleiteten. Sehr viel Fiktion war damals auf den neuen Kanälen unterwegs, selbst die Wirklichkeit erhielt über Reality-TV ihr eigenes Format. Die medienpolitische Druckwelle verharrte nicht an den Grenzen der räumlichen Einheiten. Kaum jemand glaubte an die Vorstellung, dass das Ganze bald ein Ende haben würde. Rückholbarkeit hieß die medienpolitische Beruhigungspille, die sich aber niemand verschreiben ließ.

Gehversuche und Provokationen

Die europäischen Nachbarn kannten zudem bereits andere Organisationsformen jenseits von Public Television: Italien diente als Schreckensszenario für Auswüchse des Privatfernsehens, Public-Access-Projekte dienten als Vorbild für Bürgerrundfunk, Großbritannien auch als Beispiel für die Koexistenz konkurrierender Systeme, ebenso lagen erste internationale Erfahrungen im Bereich des Bezahlfernsehens vor. Jenseits des Atlantiks stand eine große Leinwand, auf der die amerikanischen Verhältnisse zu sehen waren. Eine Orientierung an Einschaltquoten müsse zu einer Entpolitisierung der Programme führen.

Die ersten Jahre waren bestimmt von Gehversuchen und Provokationen. Man hatte Mühe, die Kanäle zu füllen, und bediente sich auf den Wühltischen der internationalen Film- und Unterhaltungsindustrie. Schnell wurde die finanzielle Dimension von Rundfunk und Fernsehen deutlich. Zum Kampf um Marktanteile gehörte die Konkurrenz um den Werbekuchen. Aus Sicht der Privaten ging es um eine deutliche Begrenzung des über Werbung finanzierten Anteils im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Die Medienkontrolle, dezentral in den Bundesländern verantwortet, hatte mit der Prüfung von Verstößen gegen die Rahmenbedingungen alle Hände voll zu tun. Ein Wechselspiel von Kontrolle und Suche nach neuen Ausweichstrategien begann.

Medienbeobachter sorgten sich um eine Angleichung der Programmqualität. Mit Konvergenz wurde der Sorge Ausdruck verliehen, dass sich die Konkurrenten in einer nicht sonderlich attraktiven Mitte träfen. Trotzdem etablierte sich der Begriff „duales System“, dem aus Sicht der Wissenschaft in einer Bilanz nach zehn Jahren ein Bedeutungsverlust der Wörter und eine Zunahme der Töne und Bilder folgte. Zur Bilanz gehörte immer auch der Blick nach vorn. Zu den Pionieren des Privatfernsehens gehört Helmut Thoma als Verantwortlicher der (damals) RTLplus-Mediengruppe. Seine Position lautete: „Seit der griechischen Antike kennen wir die Grundformen der Kategorien, die den Menschen unterhalten, bewegen, aufregen oder informieren: die Komödie, die Tragödie, der Sport und die gesellschaftliche Auseinandersetzung wie z.B. Politik. Mit diesen Angeboten ist man in den vergangenen 2.500 Jahren ausgekommen und ich nehme an, dass sie auch in den nächsten 1.000 Jahren Bestand haben werden.“

Rasanter Fortschritt

Dieser Einsicht folgte die Programmphilosophie. Erfolge auf einer Seite beunruhigten viele andere. Das Programm dehnte sich, die Kanäle auch und damit die gefüllte Zeit, die aus Sicht der Zuschauer seltener erfüllend wirkte. Auf der Angebotsseite kannte man kein Lob der Begrenzung. Das Rund-um-die-Uhr-Medium provozierte Fragen wie: „Wie viel Fernsehen braucht ein Mensch?“ Begleitet wurde diese schwierige Frage von Diskussionen, die um Vielfalt vs. Vielheit kreisten. Wer nur den Mengeneffekt beschreibt, übersieht dabei das Aufkommen von Formaten, die für sich einen dauerhaften Erfolg, eine Community geschaffen haben.

Diese Kontroversen sorgten für bewegte Zeiten, vor allem aber die Rasanz des medientechnologischen Fortschritts. Die Bilder lernten nun noch mehr laufen. Übertragungswege und -raten wurden verbessert, die Sender-Empfänger-Beziehung konnte durch mögliche Beteiligungsformen neue Formate erproben und etablieren, Social Media generierte eine wachsende Zahl von Empfängern, die Gefallen an dem Aufbau neuer Einflusssphären fanden. Überhaupt galt nun für die Medienlandschaft die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Publikumsrenner und mediale Großereignisse blieben wichtig, aber bereits 1986 schrieb Alphons Silbermann in der Neuen Zürcher Zeitung: „[…] daß wir uns derzeit im Vorstadium einer Entwicklung befinden, die auf die Dauer von der Massenkommunikation zur Individualkommunikation, zu einer Kommunikationsform, von der als einer ‚On-Demand-Communication‘, einer ‚Auf-Wunsch-Kommunikation‘ gesprochen wird.“

Aber von Nachhaltigkeit war angesichts des ständigen Erneuerns von Sende- und Empfangsgeräten, von Zubehör aller Art wenig zu spüren. Trotz Retro-Trends fühlten und fühlen sich die Konsumenten/Rezipienten in einem permanenten Update-Modus. Das Mediensystem kam und kommt nicht zur Ruhe. Die Verhinderung von Medienkonzentration galt lange als Regulativ eines Systems, das Begrenzungen von Einfluss benötigt. Nun konzentriert sich die Diskussion der Medienzukunft unter anderem auf Plattformen. Die Kunden, so ließe es sich beschreiben, betreten durch ein Portal ein Medienkaufhaus. Die Analogie mag angesichts der Akzeptanzprobleme dieses Point of Sale überraschen. Aber es werden neue Kooperationsformen, auch über Systemgrenzen hinweg, diskutiert – und z.B. im Rahmen von Recherchenetzwerken praktiziert: am Gemeinwohl orientiert und stets auf der Suche nach Verlässlichem. Die Grenzen, die vor 40 Jahren gesehen wurden, sind nicht dahin, aber nicht mehr bestimmend.

In ihrem Roman „Asymmetrie“ schrieb Lisa Halliday: „Immer passiert irgendetwas, immer wird man über irgendetwas informiert und hat doch nie genug Zeit, um sich ausreichend informiert zu fühlen.“ Eine ständig expandierende Kommunikation steigert das Medienvertrauen wohl nicht. Bereits in den 1990er Jahren wurde eine Entfesselung der Kommunikation diagnostiziert. Diese hat sich fortgesetzt und unsere Aufmerksamkeit wird ständig strapaziert. Welche Art von Auffrischung uns nun wohl erwarten wird?


Michael Jäckel war von 1984 bis 1987 wissenschaftlicher Mitarbeiter einer Kommission, die das Kabelpilotprojekt in der Region Ludwigshafen/Vorderpfalz wissenschaftlich begleitet hat