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SerieLuxemburgs Komponistinnen: Die Wiederentdeckung von Helen Buchholtz

Serie / Luxemburgs Komponistinnen: Die Wiederentdeckung von Helen Buchholtz
Symbolbild: Musik aus der Feder von Frauen steht im Mittelpunkt unserer neuen Serie in Zusammenarbeit mit MuGi.lu Quelle: FreePik

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Spotlight auf Musikerinnen aus Luxemburg: Ab sofort präsentiert das Tageblatt in Zusammenarbeit mit „Musik und Gender in Luxemburg“ jeden Monat nationale Komponistinnen, die teils in Vergessenheit geraten sind. Die neunteilige Serie beginnt mit Helen Buchholtz: Ihr Erbe wäre fast in der Tonne gelandet.

Es hätte nicht viel gefehlt, und von Helen Buchholtz würden wir heute allenfalls noch den Namen kennen: Als die Komponistin kurz vor ihrem 76. Geburtstag starb, wurde ihr Haus geräumt. Ihren rund 200 Notenmanuskripten wurde dabei keine Bedeutung zugemessen. Die Partituren wurden in Müllsäcke verpackt und standen bereits an der Straße zum Abtransport bereit, als Buchholtz’ Neffe François Ettinger zufällig vorbeikam. Er nahm sie kurzerhand an sich und lagerte sie über mehrere Jahrzehnte auf seinem Dachboden. Erst kurz vor der Jahrtausendwende konnten die Manuskripte von der Musikwissenschaftlerin Danielle Roster wieder ans Tageslicht befördert werden. Im Jahr 2003 wurde schließlich das Archiv Helen Buchholtz im CID – Fraen an Gender eröffnet, wo der Nachlass der Komponistin bis heute verwahrt wird.

Jahre in Esch

Drehen wir die Uhren rund 150 Jahre zurück: Charlotte Helena Buchholtz, genannt Helen, erblickte am 24. November 1877 in Esch/Alzette das Licht der Welt. Ihr Vater Daniel Buchholtz war Inhaber einer Eisenwarenhandlung und späterer Gründer der Brauerei Buchholtz, ihre Mutter Thérèse eine geborene Arensdorff. Mit ihren Eltern und vier älteren Geschwistern wohnte die junge Helen in einem Haus in der avenue de la Gare (heute 22, Boulevard John F. Kennedy). Über ihre Kindheit und Jugend ist wenig bekannt. Da das Escher Konservatorium zu dieser Zeit noch nicht existierte, erhielt Helen aller Wahrscheinlichkeit nach Privatunterricht in Klavier, Geige und Solfège.

Nach ihrer Zeit im Mädchenpensionat in Longwy, das Helen Buchholtz als Jugendliche Anfang der 1890er-Jahre für einige Zeit besuchte, kehrte sie in ihr Elternhaus zurück. François Ettinger, der seine Tante nach eigenen Angaben häufiger besuchte, erinnerte sich später: „Dort stand auch der schöne Flügel, unter dem ich als Bube hin und her rutschte, während Tonleitern ertönten. Ich griff auch mal in die Pedale, was dann natürlich grollenden Protest auslöste! Dann hieß es auf einmal ‚zu Tisch‘, und zwar ‚five o’clock tea‘. Da die Tante ganz vornehm englisch eingestellt war, gab es auch noch ‚plum pudding‘ mit ‚fruits confits‘, die ich gar nicht mochte und wohlweislich am Rande des Tellers ablegte […]. Ihre Lebensart war ganz speziell. Sie liebte Extravaganzen, etwa das Haar bodenlang zu tragen, lange Fingernägel zu haben trotz Klavierspielen!“

Helen Buchholtz’ frühestes datierbares Werk, ihr Opus 1, ist ein auf 1913 datiertes Ave Maria. Es entstand nachweislich noch während der Escher Zeit.

Umzug nach Wiesbaden

1914 heiratete Helen Buchholtz den deutschen Arzt Bernhard Geiger und zog zu ihm nach Wiesbaden: „Ihr Traum, in einer großen, mondänen Stadt zu leben, wurde Wirklichkeit. Wiesbaden, eine international bekannte Kurstadt, ein Kulturzentrum mit Oper, Theater, Konzertsälen, […] für Helen Buchholtz war es ein Geschenk“, erinnerte sich Ettinger. Ihm zufolge hatte Buchholtz die Ehe an eine Bedingung geknüpft: Sie wollte kinderlos bleiben und weiterhin genug Zeit haben, sich der Musik und dem Komponieren zu widmen. Ob es sich tatsächlich so zutrug? Wir wissen es nicht – wohl aber, dass Buchholtz erst im Alter von 36 Jahren heiratete und damit für die damalige Zeit recht spät; Geiger war sogar bereits über 50.

Obwohl keine vier Monate nach Buchholtz’ Umzug der Erste Weltkrieg ausbrach, dürfte zumindest der Alltag des wohlhabenden Ehepaares Geiger-Buchholtz wenig von den Kriegsgeschehnissen beeinträchtig gewesen sein: Wiesbaden war kein aktiver Kriegsschauplatz und das Kulturangebot wurde auch während der Kriegsjahre mehr oder weniger aufrechterhalten.

Helen Buchholtz mit bodenlangen Haaren, ohne Datum
Helen Buchholtz mit bodenlangen Haaren, ohne Datum Foto: P. Thorn/Copyright: Archiv Helen Buchholtz im CID – Fraen an Gender: HB 6B 1 sa6
 

Ihren Kompositionsunterricht setzte Buchholtz im „Nizza des Nordens“, wie die Stadt auch genannt wurde, fort. Per Brief kommunizierte sie mit Gustav Kahnt, dem pensionierten Chef der Luxemburger Militärmusik, und ließ ihre Stücke von ihm durchsehen und korrigieren. 1916 veröffentlichte Buchholtz ihre ersten Lieder im Escher Verlag Felix Krein: fünf Vertonungen nach Texten des luxemburgischen Dichters Lucien Koenig alias Siggy vu Lëtzebuerg. Nur wenige Monate später erschienen drei weitere Lieder in einem Wiesbadener Verlag: „Die alte Uhr“ (Text: Frida Grauel), „Die rote Blume“ (Text: Georg Sylvester Viereck) und ein weiteres Ave Maria. Das Wiesbadener Kurorchester führte zwischen 1916 und 1922 drei Buchholtz-Werke in seinem Repertoire – Zeugnis von Buchholtz’ Wunsch, auch in ihrer neuen Heimat als Komponistin Fuß zu fassen.

Nach dem plötzlichen Tod ihres Ehemanns 1921 blieb Buchholtz noch einige Jahre in Wiesbaden, bevor sie Mitte der 1920er-Jahre eine Villa auf Limpertsberg in Luxemburg-Stadt erwarb und in ihr Heimatland zurückzog. In dieser Zeit veröffentlichte sie weitere Kompositionen: Liedvertonungen nach Texten des Luxemburger Dichters Willy Goergen sowie drei Werke für vierstimmigen Männerchor a cappella.

Sonderstellung 

Unter den Luxemburger Musikschaffenden ihrer Zeit nimmt Helen Buchholtz eine Sonderstellung ein. Zum einen war das Komponieren bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine stark männlich dominierte Domaine. Neben Buchholtz sind aus dieser Zeit lediglich zwei weitere Komponistinnen bekannt: Joséphine Schmoll (1836–1925), die aber (soweit wir wissen) nur eine Handvoll Werke komponierte, und Lou Koster (1889–1973), die ein umfangreiches Œuvre von über 300 Werken hinterließ. Anders aber als Koster, die aus einer Musikerfamilie stammte und nicht nur komponierte, sondern unter anderem auch als Pianistin und Pädagogin ihren Lebensunterhalt bestritt, ging Helen Buchholtz nie einer bezahlten Arbeit nach. Als vermögende kinderlose Witwe konnte sie ihre gesamte Zeit ihrer Leidenschaft widmen: dem Komponieren.

Ihren Kompositionsunterricht setzte Buchholtz in Luxemburg bei Fernand Mertens, dem neuen Chef der Militärmusik, fort. In den 1920er- und 1930er-Jahren brachte Mertens einige ihrer Werke zur Aufführung. Vor allem der Marsch „Aus frohen Tagen“ und die „1re Valse“ für Harmonieorchester erfreuten sich einer größeren Beliebtheit und wurden in regelmäßigen Abständen gespielt – nicht nur von der Militärmusik, sondern auch von der Escher Stadtmusik, hier unter der Leitung von Charles Günther. Einige Buchholtz-Werke wurden in Esch zu wichtigen, patriotischen Anlässen gespielt, wie etwa am 11. Mai 1938 anlässlich des Jahrestags der Luxemburger Unabhängigkeit und Neutralität, oder am 5. Januar 1939 anlässlich des 18. Geburtstags von Großherzog Jean. Auf diesen Konzertprogrammen steht Buchholtz’ Name Seite an Seite mit den populärsten Komponisten der Zeit wie Mertens, Dicks oder J.-P. Beicht.

Wie viele andere Luxemburger Komponist:innen trat Helen Buchholtz während der nationalsozialistischen Besatzungszeit nicht in Erscheinung. 1949 veröffentlichte sie das Lied „Do’deg Dierfer“, die melancholische Vertonung des gleichnamigen Gedichts von Albert Elsen. Das Lied wurde in der Presse damals außergewöhnlich ausführlich und durchweg positiv besprochen. Es ist das letzte musikalische Werk von Helen Buchholtz.

Am 22. Oktober 1953 starb Helen Buchholtz in Luxemburg-Stadt. Sie hinterließ ein umfangreiches Œuvre von rund 140 abgeschlossenen Kompositionen, darunter zahlreiche Lieder für Singstimme und Klavier, Klavierstücke und Orchesterwerke. Allerdings wurde nur ein Bruchteil davon zu Lebezeiten veröffentlicht oder öffentlich aufgeführt. Besonders beliebt waren ihre Lieder in luxemburgischer Sprache oder auch ihre unterhaltenden Werke für Harmonieorchester. Ihr Klavierschaffen hingegen, darunter zahlreiche Sonaten und Charakterstücke, sowie die vielen Vertonungen deutscher Dichter:innen (allen voran Anna Ritter) hielt Buchholtz zu Lebzeiten unter Verschluss. In diesen Werken zeigt sich deutlich: Buchholtz wusste, dass diese Werke nicht dem Zeitgeist entsprachen, und nahm die damit verbundene künstlerische Isolation in Kauf.

Seit ihrer Wiederentdeckung werden die Werke von Helen Buchholtz wieder vermehrt aufgeführt. Ihr zu Ehren wurde 2022 der „Salon de Helen Buchholtz“ im Escher Bridderhaus ins Leben gerufen. Diese Begegnungsstätte für Musik (mit Konzerten, Konferenzen, Workshops und Filmvorführungen) erfährt im Herbst 2024 eine Neuauflage.

 Quelle: MuGi.lu
 Quelle: Uni.lu

Über die Autorin

Noemi Deitz ist Musikwissenschaftlerin, -autorin und -redakteurin. 2024 wurde ihr Buch „Helen Buchholtz: Komponieren zwischen zwei Welten“ als 11. Band der Reihe „Europäische Komponistinnen“ bei Böhlau veröffentlicht.

Über MuGi.lu

MuGi.lu (Musik und Gender in Luxemburg) ist ein Projekt der Universität Luxemburg, das 2022 mit dem CID – Fraen an Gender initiiert wurde. MuGi.lu erforscht, sammelt und vermittelt Wissen über Musikschaffen mit besonderem Fokus auf Geschlechterverhältnisse und umfasst mittlerweile sieben digitale Portale (www.mugi.lu). Das Portal zu Helen Buchholtz enthält Musikaufnahmen, Fotos, Noten, Korrespondenzen, Presseausschnitte, Doku-Videos und vieles mehr. Kopien der Partituren können per E-Mail angefragt werden (Kontakt: [email protected]).