„Lieber tot als bei den Taliban“Luxemburg gibt junger Afghanin eine von Österreich verweigerte Perspektive

„Lieber tot als bei den Taliban“ / Luxemburg gibt junger Afghanin eine von Österreich verweigerte Perspektive
Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn traf die junge Afghanin am Donnerstag in Budapest am Flughafen Foto: MAE

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Eine dreiwöchige Odyssee endet für eine junge Afghanin in Luxemburg. Sie bringt einen Traum mit, dessen Realisierung im Interesse des Großherzogtums ist.

Sima Samar (Name geändert) hat die zwölfte Klasse abgeschlossen, die Aufnahmeprüfung für die Universität bestanden. Am 31. August hätte sie an ihrem 20. Geburtstag also einiges zu feiern gehabt. Doch an diesem Tag weiß sie nur eines: nämlich nicht, wie es weitergehen würde. Die Taliban-Renaissance hat auch Simas Welt auf den Kopf gestellt: „Ich habe alle Träume verloren, die ich in meinem Leben hatte.“ Immerhin, das Leben hat sie noch. Auch das war wenige Tage davor noch alles andere als sicher.

Am Donnerstag nun ist Sima in Luxemburg auf dem Findel gelandet. Ein Flug aus Budapest brachte die junge Frau ins Großherzogtum. Es ist das zumindest vorläufige Ende einer Odyssee, die Sima viel abverlangte, die aber auch viel über die europäische Migrationspolitik erzählt.

Verzweifelte Suche

Seit dem Machtwechsel hatte Sima wie zehntausende andere verzweifelt einen Platz auf einem der Evakuierungsflüge aus Kabul zu ergattern versucht. Sie ahnte nicht nur, sondern wusste schon, was Frauen erwarten würde. Taliban-Schergen hatten sie ausgepeitscht, weil sie keinen Hijab getragen hatte. Sima ist entschlossen: „Bevor ich den Taliban in die Hände falle, bringe ich mich lieber um.“

Die junge Frau aus dem Dorf Gardan Hutqol in der ostafghanischen Provinz Ghazni will nur eines: weg. Mit ihrem Bruder. Dem hatten die USA als Mitarbeiter der internationalen Hilfsorganisation Hagar ein Ticket in die Freiheit gegeben. Seine Schwestern Sima und Fatima wollte Hamid (Namen geändert) mitnehmen. Doch der erste Versuch, in den Flughafen zu gelangen, scheitert an einem Taliban-Checkpoint. Mit MG-Salven, Gummipeitschen und Tränengas treiben die Islamisten die Menschenmasse auseinander. In dem blutigen Chaos verlieren sich die Geschwister aus den Augen. Sima ist plötzlich allein in dem Hexenkessel. Allein als Frau.

Höllentrips

„Ich weinte und rannte durch die Dunkelheit, um einen Weg zum Flughafen zu finden“, schildert Sima die Stunden voll Angst und Panik. Nur mit lauten Hilfeschreien kann sie die zwei Männer verscheuchen, die sie in einer Gasse betatschen. Irgendwie schafft sie es in die Nähe des Abbey Gates, wo sie im Getümmel auf vertraute Personen stößt. Nicht ihre Geschwister, aber auf ihre Cousins Najib und Abdullah sowie dessen Frau Amira. Die beiden Brüder waren, wie das Tageblatt im August berichtet hatte, Mitte Juli, wenige Wochen vor dem Taliban-Durchmarsch, nach Afghanistan geflogen. Der seit zehn Jahren in Österreich lebende Abdullah wollte seine vor zwei Jahren bei einem Heimatbesuch kennengelernte Verlobte heiraten und in die Alpenrepublik holen.

Nach ihrer Flucht aus Afghanistan war Sima in Ungarn gestrandet – seit Donnerstag ist sie in Luxemburg
Nach ihrer Flucht aus Afghanistan war Sima in Ungarn gestrandet – seit Donnerstag ist sie in Luxemburg Foto: privat

Da saßen sie nun. Vier junge Menschen inmitten einer Masse der Verzweifelten vor den meist geschlossenen Gates des Kabuler Flughafens. Nach mehreren gescheiterten Versuchen und unliebsamen Begegnungen mit Taliban oder überforderten westlichen Soldaten schafft es das Quartett am 25. August doch durchs Abbey Gate in ein ungarisches Militärflugzeug, das nach Usbekistan fliegt. Einen Tag später wird sich vor diesem Gate ein Selbstmordattentäter in die Luft sprengen und bis zu 200 Menschen in den Tod reißen.

Hilfreicher Freund

Das Quartett befindet sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf dem Flug nach Budapest, wo für Sima allerdings vorerst Endstation ist. Die beiden Brüder können als österreichische Staatsbürger problemlos weiterreisen, ebenso Amira als Ehefrau eines EU-Bürgers. Sima jedoch hat keinerlei Aufenthaltstitel für irgendwo, nur ihre afghanische Identitätskarte. Aber sie hat einen neuen, noch nie gesehenen Freund: Jürgen Schmidt.

Der mit Simas Cousins befreundete Linzer hatte schon während des Dramas in Kabul Kontakt zum ungarischen Militär aufgenommen und neben Abdullah, Najib und Amira trotz fehlenden Papieren einfach auch Sima als zu rettende Person angemeldet. Es hat geklappt, Chaos sei Dank. Jetzt will Schmidt der im Transitraum des Budapester Flughafens festsitzenden Afghanin weiterhelfen. Er informiert Journalisten, ersucht das Wiener Außenamt um Hilfe, schreibt an Bundespräsident Alexander van der Bellen. Letzterer antwortet freundlich, kann aber auch nicht viel tun.

Österreichs rote Ampel

Denn Österreichs Botschaft in Budapest hat die Ampel auf Rot gestellt. Die Diplomaten tun, was die Zentrale in Wien vorgibt. Kein Afghane, keine Afghanin wird aufgenommen. Sima wäre der Präzedenzfall, der Sebastian Kurz‘ Mauer der Ablehnung ins Wanken und der FPÖ kurz vor den Landtagswahlen in Oberösterreich am 26. September Aufwind geben könnte.

Manche in der EU verstecken sich hinter dem türkisen Bundeskanzler. Andere lassen ihrem Unmut über die innenpolitisch motivierte Blockadehaltung Österreichs freien Lauf. Jean Asselborn ist ihre Stimme. Ohne diplomatische Schnörkel ruft Luxemburgs Außenminister im Streit um die Aufnahme von afghanischen Flüchtlingen zum „Widerstand gegen Herrn Kurz aus Österreich und Herrn Jansa aus Slowenien“, den gegenwärtigen EU-Ratsvorsitzenden auf. Mit ihrer Haltung verlören sie die „Qualität, ein Europäer zu sein“.

„Wir nehmen die Frau“

Man kann einwenden, dass Österreich in Relation zur Bevölkerung sechsmal so viele Afghanen aufgenommen hat wie Luxemburg. Und man kann darauf verweisen, dass die 45.000 Afghanen in Österreich die viertgrößte afghanische Exilgemeinde der Welt darstellen. Man kann, wie Kurz und sein Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) es auch eifrig tun, mit der nackten Statistik Asselborns Kritik zurückweisen.

Man kann aber auch Statistik und Taktik beiseite lassend einfach tun: „Wir nehmen die Frau“, sagt Jean Asselborn. Der Minister ist schnell entschlossen. Als er am 4. September vom Schicksal der jungen Frau in Budapest erfährt, dauert es keine Stunde, bis die Grundsatzentscheidung gefallen ist.

Ungarn ist Asselborn nicht böse, wenn er die mittlerweile ins berüchtigte Aufnahmelager Röszke an der Grenze zu Serbien verlegte Afghanin haben möchte. Jedenfalls wird Sima hier wie weiter oben an der Donau keine Perspektive geboten. Drei Monate könne sie bleiben, teilt man ihr mit, was dann sei, sagte man ihr nicht. Luxemburg ist also ihre einzige Hoffnung, da auch die USA, wo Simas Bruder inzwischen gelandet ist, keine schnelle Aufnahme in Aussicht stellen. Doch der bürokratische und organisatorische Aufwand, den Luxemburgs Botschaftsrat Georges Eischen in Wien mit Unterstützung des ein Zeichen gegen „seine“ Regierung setzen wollenden Jürgen Schmidt zu bewältigen hat, erfordert Geduld. Und auch so manches Telefonat auf höherer Ebene.

Zwölf Tage später

Zwölf Tage nach Asselborns grünem Licht ist es so weit. Am späten Donnerstagnachmittag landet das Flugzeug aus Budapest mit Sima an Bord in Luxemburg. Die 20-Jährige hat wieder eine Perspektive – keine von ihr so geplante, aber eine aus der Humanität einiger engagierter Akteure erwachsene. „Ich werde Luxemburg für diese menschliche Haltung immer dankbar sein“, sagt Sima zum Tageblatt. Sie möchte „hilfreich und wertvoll sein für die luxemburgische Gemeinschaft“ und hat auch schon konkrete Pläne. „Mein Traum wäre es, eine Ausbildung zur Krankenschwester zu machen.“

Fachkräftemangel im Gesundheitsbereich macht nicht nur Luxemburg zu schaffen. Auch Österreich sucht händeringend nach jungen Menschen mit Ambitionen für Pflegeberufe.

Wieder Mann
17. September 2021 - 5.47

@Blanchet:Bei den Kurden in Syrien kämpfen auch kurdische Studentinnen , Studenten die in Deutschland groß geworden sind . Warum sollte , der Westen spricht sooft von Frauenrechten , Gleichheit , eine junge Studentin nicht ihren Mann an der Waffe stehen. Übrigens im Maquis kämpften auch Frauen und was meinen Teil betrifft , habe ich meinen Dienst an der Waffe geliefert .Für die Freiheit, die Demokratie habe ich einige Jahre meiner Jugend , groß geworden unter Wirtschaftswunder, den Amerikanern, aus Überzeugung gegen die kommunistische, sozialistische Bedrohung meinen kleinen Teil dazugetan Sie heute nicht unter roter Bevormundung leben müssen.Mir scheint eher die heutigen modernen, fortschrittlichen , humanistischen Schreier nicht wissen , andere Generationen diese Werte ,Rechte erkämpft haben.Diese zur Selbstverständlichkeit der Konsum-,Spaßgesellschaft gehörenden Rechte,Werte , kann man nicht im Laden oder Internet kaufen , aber das scheint diesen nicht bewusst.

Blanchet
16. September 2021 - 20.31

@Wieder Mann "und diese Mentalität sich kämpfend gegen die Widersacher zustellen ,vermisse ich bei den flüchtigen Afghanen," Die Dame ist Studentin, 20, hat niemals unter den Taliban gelebt, nur unter amerikanischer Besatzung. Ich nehme an, Sie waren den ganzen Krieg im Maquis.

Wieder Mann
16. September 2021 - 16.04

Vor einigen Tagen hat „ Histoire“ einen Beitrag über Massoud „ Den Tiger vom Panjshir Tal“ gesendet und diese Mentalität sich kämpfend gegen die Widersacher zustellen ,vermisse ich bei den flüchtigen Afghanen, den europäischen Politiker, Gerechtigkeitsfanatiker. Ich vermisse auch , all die europäischen Humanisten, Gerechtigkeitsfanatiker von humanitärer Katastrophe, den Frauenrechten , …….sprechen , nicht den bewaffneten Widerstand in Afghanistan unterstützen.Nur mit der Waffe kann dieses interne afghanische Problem der Taliban gelöst werden, wohlwissentlich der kulturellen Zustände in Afghanistan nie ein politisch, demokratisches System gleich dem Westen errichtet werden kann, eine moderater islamistischer afghanischer Staat schon. Der Sohn von Massoud hat versucht den Taliban die Stirn zu bieten , er wäre wie sein Vater der einzige Garant das Talibanregime noch zu stürzen.