Die ins Exil nach Litauen gezwungene mutmaßliche Präsidentenwahlsiegerin vom August 2020 muss sich vor dem Minsker Stadtgericht, ohne anwesend zu sein oder sich gar verteidigen zu können, wegen angeblichen Hochverrats verantworten. Die gänzlich vom Autokraten Alexander Lukaschenko abhängige Staatsanwaltschaft fordert zwölf Jahre schweres Arbeitslager für die bekannteste Oppositionspolitikerin des diktatorisch regierten Landes, das dazu hochgradig von Moskau abhängig ist. Swetlana Tichanowskaja werden neben Hochverrat auch noch ein versuchter Staatsstreich, die Gründung einer extremistischen Gruppe, Aufruf zum Hass und zu internationalen Sanktionen gegen Belarus vorgeworfen.
Der Prozess gegen Tichanowskaja ist der erste in Abwesenheit geführte politische Schauprozess in Belarus. Am Dienstag zählte die verbotene und ebenfalls angeklagte Menschenrechtsorganisation „Wiasna“ im ganzen Land 1.438 politische Gefangene, die wie einst in der stalinistischen UdSSR zwischen eins und 18 Jahren in Gulag-ähnlichen Arbeitslagern absitzen müssen. Neben Tichanowskaja sind in Minsk auch Lukaschenkos ehemaliger Kulturminister Pawel Latuschko, ein inzwischen in Polen wohnhafter bedeutender Oppositionspolitiker, der Gewerkschaftsführer Sergej Dylewski, die Oppositionelle Maria Moros und Olga Kowalkowa wegen Hochverrats angeklagt.
Wie lange der Prozess dauert, ist unklar. Klar ist Kennern des Lukaschenko-Regimes hingegen, dass die fünf Angeklagten für schuldig befunden und verurteilt werden. Rechtzeitig zum Prozessauftakt hat der Autokrat dazu ein Gesetz unterschrieben, das die Enteignung von „Volksfeinden“, die ins Ausland geflohen sind, möglich macht. Betroffen von diesen neuen Möglichkeiten für die Organe des von Lukaschenko gekaperten Staates könnte nun also auch Tichanowskajas Dreizimmer-Wohnung in der ost-belarussischen Stadt Gomel unweit der Grenze zur Ukraine sein.
Weitere Prozesse gegen Oppositionelle
Der Prozess gegen die fünf prominenten Exil-Politiker fällt zusammen mit einer Reihe weiterer Strafrechtsprozesse gegen Oppositionspolitiker, die das Land nicht rechtzeitig verließen. So wurde Swetlana Tichanowskajas Ehemann Sergej, der bereits eine Lagerstrafe von 18 Jahren absitzt, dieser Tage wegen „böswilligen Widerstandes gegen die Gefängnis-Ordnung“ neuer Straftaten angeklagt. Der Prozess soll bald hinter Gittern stattfinden. Erst am Montag begann in der aufmüpfigen, west-belarussischen Stadt Grodno unweit der Grenze zu Polen dazu der Prozess gegen Andrzej Poczobut, einen bekannten Aktivisten der polnischen Minderheit und Journalisten. Auch Poczobut, der in der 18-monatigen U-Haft gesundheitlich enorm gelitten hat, soll wegen angeblichen Hochverrats für zwölf Jahre hinter Gitter.
Laut Insiderinformationen soll das Regime diesen Prozess in der Hoffnung auf eine hohe Freikaufsumme aus Polen zuvor bereits mehrmals verschoben haben. Allerdings hatte sich Andrzej Poczobut im Sommer 2021 geweigert, ein Gnadengesuch an Lukaschenko zu stellen, um danach zur Belohnung nach Polen abgeschoben zu werden. „Andrzej wird niemals einer Ausreise aus seiner Heimat Belarus zustimmen, eher stirbt er im Gefängnis“, sagt im persönlichen Gespräch ein enger Mitstreiter aus Grodno, der aus Sicherheitsgründen anonym bleiben muss.
De Maart
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