Luciano Pagliarini ist Jazzmusiker und Industriehistoriker (oder umgekehrt)

Luciano Pagliarini ist Jazzmusiker und Industriehistoriker (oder umgekehrt)

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Die Schwerindustrie und die Jazzmusik haben das Leben von Luciano Pagliarini geprägt. Mal hat das eine, mal das andere dominiert. Schwierig wurde es erst, als er auf beiden Hochzeiten tanzen wollte. Nach seinem Schlaganfall 2005 hatte er sich ganz der Erforschung der Industriegeschichte gewidmet. Seit einem Jahr gewinnt nun die Musik wieder Oberhand.

Luciano Pagliarini ist zurück auf der Bühne. Eigentlich war er nie wirklich weg. Er musste nur eine kurze Pause einlegen. Wegen eines Schlaganfalls, den er 2005 erlitten hat. „Chi va piano, va lontano“ laute sein Motto seitdem. Nach den Konzerten gehe er nicht mehr mit zu den obligaten Jam-Sessions, sondern ins Bett. Zwei Kaffees und ein Cognac, um wach zu bleiben? Das war gestern. Der Arzt habe ihm davon abgeraten. Nachdem sie ihm ein Loch in den Hals gebohrt hatten, weil er nicht mehr schlucken konnte, hatte er befürchtet, seine Karriere sei vorbei. Er konnte nichts mehr essen und sein Saxofon blieb stumm. Dieses Gefühl möchte er nicht noch einmal erleben. Deshalb ist es besser, leiser zu treten.

Im Januar dieses Jahres wurde in sein Haus in Audun-le-Tiche eingebrochen, während er mit seiner Frau im Urlaub war. Er wohnt gleich gegenüber der Gendarmerie. Mehrere Musikinstrumente und sieben Heizkörper nahmen die Einbrecher mit. Sie hatten das Wasser abgestellt, bevor sie die Radiatoren abmontierten. Ein Wasserschaden wäre eine Katastrophe gewesen. Luciano Pagliarinis Haus gleicht einem Museum. Überall stapeln sich Bücher, Ordner, Akten, Zeitschriften, Fotos, Postkarten. An den Wänden kleben Konzertplakate. Auf dem Regal im Musikzimmer reihen sich Hunderte Schallplatten aneinander. „Ich höre in letzter Zeit wieder viel Musik“, sagt der Meister.

Das Arbeitszimmer im ersten Stockwerk ist der Stahlindustrie gewidmet. Die Ordner in den Regalen sind spiralförmig angeordnet. Sie zeichnen die Geschichte der Erschließung des „Bassin minier“ nach. Dazwischen stehen die Bücher, die er veröffentlicht hat: „L’autre mine“ und „D’Seelebunn“ sind die bekanntesten. Beide sind vergriffen.

„Déifferdenger Jong“

1957 in Differdingen geboren und aufgewachsen, verbrachte er seine Kindheit auf „dem Bierg“. Sein Vater arbeitete in der Grube auf dem „Thillebierg“. Die Eisenerzabbaugebiete mit ihren Seilbahnen und Grubenbahnen waren seine Spielwiese. Im Alter von 17 Jahren, nachdem er die Schule abgebrochen hatte, begann er, alte Fotos zu sammeln. „Jeder Grubenarbeiter hatte mindestens drei, vier Bilder zu Hause. Ich habe eine regelrechte Jagd nach solchen Fotos gestartet. Aber ohne Methode“, erzählt Pagliarini.

Um als Schulabbrecher trotzdem studieren zu können, legte er das „Examen spécial d’entrée à l’Université“ ab. An der Sorbonne in Paris wollte er Kunst und Archäologie studieren. Die meiste Zeit verbrachte er aber in der Bibliothek der renommierten Ingenieur-Hochschule „Ecole des Mines de Paris“. Dort fand der Sohn italienischer Einwanderer einen wichtigen Teil seiner Identität. „Wir, die von italienischer Abstammung waren, hatten diesen Komplex, dieses Delirium, Luxemburg sei so klein, dass nie ein Luxemburger internationale Bekanntheit erlangte außer Charly Gaul. Für mich war Luxemburg ‚nul et non avenu‘. Einfach zu klein.“ In Paris sollte sich dieser Eindruck ändern.

In der „Ecole des Mines“ fand er Dokumente, in denen Differdingen als Musterbeispiel der Schwerindustrie angeführt wurde. Er las „L’homme du fer“ von Serge Bonnet. In der Fachliteratur über die Stahlindustrie war das Saar-Lor-Lux-Becken omnipräsent und Luxemburg schien auf einmal gar nicht mehr so klein. Doch es war gerade die Zeit, als im „Bassin minier“ der Niedergang der Stahlindustrie seinen Lauf nahm.

Nicht jeder Arbeiter ein Proletarier

Pagliarini kaufte in Lothringen Postkarten, auf denen Gruben und Stahlwerke abgebildet waren. In Paris hatte er gelernt, methodisch vorzugehen. Er führte Interviews mit Arbeitern. Und er erkannte, dass diese seinen Erwartungen nicht immer gerecht wurden: „Am Anfang wollte ich in jedem Arbeiter einen Revoluzzer oder gar Anarchisten sehen. Doch die meisten waren nicht so. Später ließ ich sie einfach erzählen. Viele glorifizieren die Zeit und reden nur vom Arbeitskampf. Die meisten Frauen haben hingegen einfach ihre Alltagserfahrungen geschildert.“ Das Sammeln wurde schnell zur Leidenschaft.

Doch die Stahlindustrie ist nicht seine einzige Leidenschaft. Schon früh begann er mit der Musik. Sein Vater spielte Akkordeon. „Ich weiß nicht, ob ich es im Blut habe, aber ich musste auf jedem Instrument spielen, das ich zwischen die Finger bekam.“ Mit 7 oder 8 Jahren trat er der Differdinger Stadtmusik bei. Später besuchte er als Saxofonist die Musikschule in Esch/Alzette. Doch das Repertoire war ihm zu langweilig und er verlor zeitweise die Lust an der Musik.

Charlie Parker

Bis er den Jazz kennenlernte. Eine Offenbarung war sein erster Kontakt mit der Musik von Charlie Parker, die er als 15-Jähriger zufällig in einem Film hörte: „Das war ein Schock. Im positiven Sinne. Ich hatte nicht gedacht, dass es jemanden gibt, der das Saxofon auf diese Weise spielt.“ Von da an versuchte Luciano Pagliarini, Charlie Parker nachzueifern. Er begann in Big Bands zu spielen und verdiente sich damit ein kleines Taschengeld. Während des Studiums in Paris verlor die Musik wieder an Bedeutung. Er lernte seine Frau dort kennen, sein Sohn kam zur Welt.

Berufsmusiker wurde Pagliarini erst, als er 1982 mit seiner Familie in die Provence zog. Eigentlich sollte er dort als Fotograf arbeiten, doch daraus wurde nichts. Als Notlösung nahm er wieder sein Saxofon in die Hand. Erst spielte er in Tanzorchestern, fand jedoch schnell wieder zum Jazz. Von den Gagen konnte er sich und seine Familie ernähren. Zwischen den Konzerten und Proben kam er zurück nach Luxemburg und erkundete die Überbleibsel der Stahlindustrie: „An meinem Leben als Berufsmusiker gefiel mir, dass ich viel Freizeit hatte, während der ich mich ausgiebig mit der Geschichte des ’Bassin minier’ beschäftigen konnte“, erzählt Pagliarini.

„Aus Heimweh“ kehrte er 1990 der Provence den Rücken und ließ sich mit seiner Familie in Audun-le-Tiche nieder. Er wollte bei der Schließung der letzten Stahlwerke selbst dabei sein. Fünf Jahre später gründete er die „Brigade d’intervention musicale“ (BIM), die Jazz mit traditionellen Melodien vermischte und auf vielen Festen auftrat. Über Aufträge konnte sich die BIM nicht beklagen und Pagliarini konnte seine Rechnungen bezahlen. Daneben engagierte er sich immer weiter in Vereinen und Initiativen zur Dokumentierung und Bewahrung der Industriegeschichte. Bis es ihm auf einmal zu viel wurde. Die Anforderungen in beiden Bereichen waren nach und nach gestiegen. „Ich habe es nicht mehr geschafft. Ich konnte nicht mehr. Ich habe drei, vier Stunden am Tag geschlafen. Als Mann und Macho hat man immer die Vorstellung, man bräuchte keinen Schlaf. Doch der Arzt hat mich eines Besseren belehrt.“

2005 kam dann der Schlaganfall. Ab da war mit der Musikerkarriere erst einmal Schluss. Der Lebensstil eines Jazzman war mit der Genesung nicht zu vereinbaren. 2007 wurde BIM zwar wiederbelebt, doch die Anzahl der Aufritte blieb überschaubar und die Band, die er zusammen mit seinem Bruder Daniel leitete, war fortan eher eine Familienangelegenheit als ein ambitioniertes Ensemble. Stattdessen trat die Industriegeschichte wieder in den Vordergrund. Pagliarini engagierte sich bei der „Entente Mine Cockerill“ und dem „Musée des Mines“, arbeitete an Veröffentlichungen der „Fondation Bassin minier“ mit, verfasste Zeitungsartikel oder Beiträge in Broschüren und veröffentlichte seine beiden bekanntesten Bücher.

Dornröschenschlaf

Vor rund einem Jahr hat der Fotograf Fred Bisenius ihn zu einem Avantgarde-Jazz-Festival nach Oberscheid im Westerwald mitgenommen. Die Stimmung dort hat ihn beeindruckt. Und er habe gemerkt, dass die meisten, die dort auftraten, ihm nicht das Wasser reichen können. Nur wenige Tage später befiel ihn wieder das Jazz-Virus. Mit dem Drummer Misch Feinen, der sich auch für Industriekultur begeistert, und dem Bassisten Jay Christnach, den er noch von früher kennt, begann er, gelegentlich zu jammen. Luciano Pagliarini’s Total Trio heißt das Projekt. Anfang des Jahres nahmen sie ein Demo-Album auf. Es folgte eine Konzertreihe im Düdelinger Hall Fondouq. Im August trat Total Trio selbst in Oberscheid auf. Am Samstag spielt Pagliarini mit französischen Jazzmusikern im „Petit Théâtre de la Placette“ in Nîmes. Im November steht eine Studioaufnahme mit dem bekannten amerikanischen Jazzbassisten Joe Fonda an. „Ich bin aus dem Dornröschenschlaf erwacht. Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde“, sagt Luciano Pagliarini. Er hat auch schon eine Erklärung: „Die Natur nimmt sich alles zurück. Sobald du noch etwas zu zeigen hast, wirst du zurückgenommen. Wenn du verstehst, was ich meine?“ Natürlich!