Mancher im Publikum mag sich wirklich fragen, warum Jean Genets wohl populärstes und meistgespielte Stück aus dem Jahr 1947 noch heute so auf den Bühnen gezeigt wird, häufiger etwa als „Huis Clos“ von Jean-Paul Sartre, das ein paar Jahre vor „Les Bonnes“ entstand – und bevor Sartre zusammen mit Jean Cocteau in einem offenen Brief um Genets Begnadigung bat. Sie stellten ihn in eine Reihe mit den großen „poètes maudits“ François Villon, Charles Baudelaire, Arthur Rimbaud und Paul Verlaine. Sartre veröffentlichte 1952 seinen fast 600 Seiten langen Essay „Saint Genet – comédien et martyr“, eine literarische Heiligsprechung des Dichters. Über Genets „Journal du voleur“ (1949) meinte Sartre, dies sei keine Autobiographie, sondern eine „heilige Kosmogonie“.
Genet war einer der kontroversesten Literaten des 20. Jahrhunderts. „Orpheus der Gosse“ nannte ihn der katholische Romancier François Mauriac. Als einen der größten Schriftsteller Frankreichs bezeichnete ihn Cocteau. Für Sartre war er der „schwarze Magier“. Dem 1910 in Paris geborenen Genet, Sohn einer Prostituierten und aufgewachsen in einer Pflegefamilie, die er nach eigenem Bekunden bestahl, drohte nach einer Jugend in Besserungsanstalten und einer frühen Bekanntschaft mit dem Gefängnis aufgrund von Diebstahl ein Leben als Krimineller. Dass man ihn unschuldig der Tat bezichtigte, sei ein einschneidendes Erlebnis für ihn gewesen und habe ihn in seinem Selbstbild als Randexistenz bestätigt, schreibt die Literaturwissenschaftlerin Miriam Havemann. Die zweite für sein Leben entscheidende Entdeckung war die seiner Homosexualität. Hinzu kam die Faszination für die Ausgestoßenen.
Das Verbrechen als heilige Handlung
Genet brannte durch, lebte auf der Straße und landete mehrmals im Gefängnis. Mit 18 ging er zum Militär und diente unter anderem im Nahen Osten und in Marokko. Er desertierte und führte, als Dieb, Streuner und Homosexueller, ausgestoßen von der Gesellschaft, ein rastloses Vagabundenleben. Genet zog Tausende Kilometer oft zu Fuß durch verschiedene Länder Europas. Er las viel, klaute Bücher und verkaufte sie. Zu schreiben hatte er wohl im Gefängnis begonnen. Schreiben war für ihn Befreiung. Einige seiner bekanntesten Gedichte und Romane entstanden hinter Gittern, so etwa das Gedicht „Le condamné à mort“ (1942), auf das Cocteau aufmerksam wurde. Im selben Jahr schrieb Genet im Knast von Fresne „Notre-Dame-des-Fleurs“, seinen ersten Roman über einen Strichjungen aus der Provinz, der in der Pariser Unterwelt landet. Später entstand „Querelle de Brest“ (1947) über einen Matrosen. Das Buch wurde 1982 von Rainer Werner Fassbinder verfilmt. Auf nahezu religiöse Weise verklärte Genet das Verbrechen und stilisierte es zur heiligen Handlung. Er stellte damit das europäische Wertesystem, die althergebrachte Moral des Bürgertums, auf den Kopf.
Am Theater war Genet schon immer interessiert. Dass aber eines seiner Stücke jemals inszeniert werden sollte, daran vermochte er nicht zu denken, schon gar nicht von Louis Jouvet, dem gefeierten Schauspieler und auch bekanntesten Theaterregisseur seiner Zeit. Jouvet ließ Genets „Les Bonnes“ umschreiben. Von dessen Idee, die drei Rollen – die der Schwestern und Zofen Claire und Solange sowie die der „Madame“ – von Männern zu spielen, hielt Jouvet nichts. Die Proben gerieten dem Schriftsteller zur Qual, nachdem er eine davon gesehen hatte, verließ er das Theater. Genet avancierte zu einem Vertreter des „Anti-Theaters“. Übrigens nahm, mit seiner Abkehr von der Kriminalität, der Grad an Gewalt in seinen Texten zu. Das Schreiben wird regelrecht zum Surrogat des Verbrechens.

Aufgrund seines Vorstrafenregisters drohte Genet wegen „Rückfalldiebstahls“ lebenslange Haft. Doch Sartres und Cocteaus Gnadengesuch hatte Erfolg. Auch wenn er von etlichen Theatermachern verehrt wurde, ließ er sich nur selten mit ihnen blicken. Vielmehr wandte er sich der „Politik der Außenseiter“ zu, sympathisierte mit den Black Panther, der Palästinenserbewegung und der deutschen Rote-Armee-Fraktion. 1986 starb Genet, der seinen Liebhabern Häuser gebaut hatte, selbst zeitlebens meist in Hotels gewohnt hatte, in einem Hotelzimmer an Kehlkopfkrebs. Das ganze Leben lang fühlte sich Genet als Ausgestoßener. So endete auch sein Leben. Am besten nachzulesen ist sein Leben in der großartigen und umfassenden Biografie von Edmund White.
Die Bühne im TNL für „Les Bonnes“ ist eine große weiße Drehscheibe, auf die zuerst François Camus als Madame halb nackt tritt, während die beiden Schwestern Claire und Solange kaum erkennbar umschlungen auf dem Rund liegen. Madame nimmt zuerst die Perspektive des äußeren Betrachters ein, über das Stück und die Inszenierung sinnierend, als wolle sie zeigen, das hier sei Theater. Die einstige Konstellation einer dominanten Bourgeoisie scheint obsolet zu sein, ist es aber nur scheinbar. Sie ist nur subtiler geworden. Claire und Solange leben in der Machtsphäre ihrer Dienstherrin. Ein Teufelskreis, eine geschlossene Gesellschaft, in die nur der Gatte der Madame wieder einzudringen droht, den sie unter falschen Anschuldigungen ins Gefängnis gebracht hatten und der aus der Haft entlassen wird.
Spiel von Dominanz und Unterwerfung
Auch wenn Genet dem Stück einst eine politische Bedeutung absprach, ist diese angesichts der gewachsenen Kluft zwischen Arm und Reich in den vielen westlichen Gesellschaften nicht von der Hand zu weisen. Die einst Machtlosen treiben selbst das Spiel der Macht und der seelischen Grausamkeit. Sieht Genet Verbrechen als heiligen Akt, wird es hier verinnerlicht, im Sinne einer sich „toxisch“ präsentierenden Beziehung. In der Abwesenheit der „Madame“ spielen Claire und Solange das Verhältnis zu ihr durch: Die eine übernimmt den Part der „gnädigen Frau“, die andere die Zofe, ein Spiel von Herrscherin und Beherrschten, wenn auch in schöne Worte gehüllt, von Dominanz und Unterwerfung, von Hassliebe und Demütigung. Sie übertragen die Hegelsche Herr-Knecht-Dialektik, während Madame abwesend ist, auf ihre eigene Beziehung. In ihrer Hassliebe beschließen sie, diese zu vergiften und spielen das Ritual des Verbrechens bis zur allerletzten Konsequenz unter sich durch: „Madame est bonne. Madame est riche. Madame est belle.“ Und sie vergiftet uns mit ihrer Sanftheit. Als Vorgesetzte kann sie noch so liberal und tolerant sein – sie bleibt Vorgesetzte. Die Bediensteten übernehmen ihre Rolle, wenn sie sich mit ihren Kleidern und Juwelen schmücken, aber teilen nur ihren Selbsthass.
Ihr habt Glück, dass man euch Kleider schenkt. Ich muss sie mir kaufen, wenn ich welche will.
Die Macht ist nicht geschlechtsspezifisch. Das Stück, 1947 noch ein Tabubruch, zu dem sich Genet von einem realen Mordfall inspirieren ließ, wurde in den unterschiedlichen Geschlechterkombinationen gespielt. Mit drei Frauen, drei Männern, wie es der Autor vorgesehen hatte, oder gemischt. Obwohl es nicht ausdrücklich um Politik geht und das Märchen- und Traumhafte – der Traum vom Verbrechen, wie es Genet nennen würde – immer wieder durchschimmert, sind es die geschlechterübergreifenden Fragen von Macht und Gewalt, von Dominanz und Unterdrückung, die im Vordergrund stehen, Phantome der Macht. Madame sagt: „Ihr habt Glück, dass man euch Kleider schenkt. Ich muss sie mir kaufen, wenn ich welche will.“ Das Selbstmitleid nimmt ihr keiner ab. Zugleich verschieben sich die Machtverhältnisse, wenn Claire Madame und Solange Claire spielen. Die demonstrative Herrschaft der Bourgeoise ist zur subtil diversifizierten Machtkonstellation im Sinne Michel Foucaults geworden, zum Ausdruck gebracht durch die karussellartige runde Bühne, die Madames Schlafzimmer zeigt, den „lieu du crime“. Foucault sah in Genet die Figur des von der Institution „zerquetschten“ Delinquenten. Doch Genet schuf diesen, bevor Foucault „Überwachen und strafen“ verfasste. Sein „Haute surveillance“ (1946) ist wie ein Traum. Als er die radikale Gegenwelt zum bürgerlichen Moralkodex entwarf, war er menschlich, allzu menschlich.
François Camus beginnt als exzentrische Madame, als reflektiere diese über den Sinn, das Stück den Zuschauern zu zeigen. Brillant wechselt er von der Haltung der sensibel wirkenden Frau hinüber zur Stärke ihrer Dominanz. Im „Huis Clos“ des Schlafzimmers befinden sich Claire (Jeanne Werner) und Solange (Valérie Bodson), gekleidet in Arbeitskittel. In ihrem Rollenspiel zeigen sie ihre Mordlust, als Mörderin und Opfer, musikalisch untermalt von berühmten Chansons, Platten von Françoise Hardy, France Gall und Edith Piaf, Jacques Brel und Gilbert Bécaud, die sie selbst auflegen, illustriert von visuellen und tönenden Hintergrundeffekten, getaucht in ein dezentes Licht. Bodson und Werner spielen die Zofen in ungeheurer Intensität, ohne dass es ihnen an Leichtigkeit fehlt. Ihre Präsenz und die von Camus füllt die Bühne, mit den Mitteln von Genets Sprache reißen sie uns mit. Überhaupt sei Letztere eine Besonderheit, gesteht Frank Hoffmann. Der Regisseur gibt zu: „Ihre poetische Schönheit kann dem Regisseur eine Falle stellen, wenn er sich von den Worten und Metaphern mitreißen lässt.“ Hoffmann tappt nicht in die Falle dieser Sprache, sondern erweckt sie zum Leben.

		    		
                    De Maart
                
                              
                          
                          
                          
                          
                          
                          
                          
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