Weiße Planen wehen im Wind, der Blick durch sie ist getrübt, dann klar: Im Hof spielt wer Fußball, am Horizont geht die Sonne unter. Später flimmern die Zeltlager von Asylsuchenden unter dem Pont Adolphe in Luxemburg-Stadt über den Bildschirm – ein Ort, an dem allein reisende Männer im Herbst 2023 Zuflucht suchten, als in den Einrichtungen des „Office national d’accueil“ (ONA) für sie kein Platz mehr war.
Es sind Szenen aus der Kurzdoku „After Arrival“, aufgenommen vom syrischen Künstler und Architekten Mohammed Zanboa. Sie entstand im Rahmen seiner gleichnamigen Abschlussarbeit: 2021 zog der 30-Jährige regulär als Master-Student in Architektur nach Luxemburg und erhielt über die Universität eine Unterkunft. In seiner Recherche befasste er sich mit der Wohn- und Lebenssituation von Asylsuchenden sowie -begünstigten in Luxemburg.

Dafür besichtige er 17 der über 60 (Stand: September 2023) Einrichtungen des ONA. Der Zutritt ins Innere wurde ihm verwehrt, offizielle Besuchsanfragen blieben unbeantwortet. Vor einzelnen Zentren wurde Zanboa von privaten Sicherheitskräften vertrieben und zum Löschen seiner Fotos gedrängt. Zanboas Lösung: Er wandte sich stattdessen direkt an die Menschen, die in den Aufnahmezentren leben, führte Interviews durch und fertigte auf Basis ihrer Erzählungen Zeichnungen der Einrichtungen an. „Es war das erste Mal, dass ich mich in Luxemburg als ‚Insider‘ fühlte“, erinnert er sich an die Anfänge des Projekts. „Ich konnte mit den syrischen Bewohnern interagieren, weil wir dieselbe Sprache sprechen. Sie waren dankbar für den Austausch.“ (Im Januar 2025 machten Menschen aus Syrien neun Prozent der Asylsuchenden in Luxemburg aus, d.R.) Zanboa schloss seinen Master letztes Jahr ab, daraus entstand die Ausstellung „Municipality 101“. Sie findet unter der Schirmherrschaft von „The Esch Clinics“ statt, einem Projekt des „The Chair of the City of Esch“ an der Universität Luxemburg.
Wohnungskrise
Zanboa spielt mit dem Titel auf die Aufnahmekapazitäten und die Funktionsweise der Wohnräume des ONA an. Die Einrichtungen können über 8.000 Menschen beherbergen und sind letzten Angaben nach (Stand: 2024) fast ausgelastet. Zanboa rechnet aus: Das übersteigt die durchschnittliche Einwohnerzahl in Luxemburgs 100 Gemeinden. Er begreift die Aufnahmeeinrichtungen des ONA unter anderem deswegen als die 101. Gemeinde Luxemburgs. Eine Gemeinde mit eigenen Gesetzen.

Ein Großteil der Personen in den Einrichtungen genieße den internationalen Schutzstatus, so Zanboa, fände auf dem Wohnungsmarkt aber keine Bleibe. Aus der Not heraus würden Betroffene für verhältnismäßig wenig Geld einen Schlafplatz vom ONA mieten. Nach der Broschüre „Tout savoir sur l’accueil des DPI/BPI dans les communes“ des ONA bleibt ihnen ein Jahr bis zum Auszug.
Zanboa holt das Projektheftchen hervor, blättert dadurch und zeigt auf einen exemplarischen Vertrag. 2023 mietete die Person für 510 Euro einen Schlafplatz von acht Quadratmetern mit Gemeinschaftsküche und -bad. Das Zimmer (16 Quadratmeter) teilte sie sich mit einem Fremden. „Ein Teppich (…) der nicht leicht entflammbar ist und der nicht mehr als 50 Prozent der Raumfläche bedeckt und nicht im Weg liegt“ ist nach Vertrag erlaubt. Immerhin. Zanboa deutet auf weitere Artikel aus dem Vertrag, viele stechen hervor: Zimmerdurchsuchungen sind auch in Abwesenheit der Nutzenden erlaubt; es herrschen feste Anwesenheitszeiten für alle Bewohner*innen. Die Wohnungskrise lässt ihnen keine andere Wahl, als die Bedingungen hinzunehmen.
Flüchtlinge sollten nicht länger als Nutznießer, sondern als aktiver Teil der Gesellschaft verstanden werden
„Municipality 101“
Wo? Cultures of Assembly (24, rue du Brill, Esch-sur-Alzette)
Wann? Vernissage heute Abend, 1. April, ab 19 Uhr
Im Rahmen der Vernissage findet um 19.30 Uhr ein Rundtischgespräch auf Englisch zu den Ausstellungsinhalten statt. Geladen sind: Abdulraham Assad (ehemaliger Bewohner einer ONA-Einrichtung), Marianne Donven (u.a. Co-Gründerin von „Oppent Haus“ und „Chiche!“), Sérgio Ferreira (Sprecher und politischer Leiter der ASTI), Markus MIessen (Universität Luxemburg), César Reyes Nàjera (Universtiät Luxemburg) und Mohammed Zanboa (Forscher und Kurator).
Öffnungszeiten? Mittwoch und Freitag von 13 bis 16 Uhr; Dienstag, Donnerstag und Freitag von 14 bis 18 Uhr sowie per Anfrage via [email protected]. Noch bis zum 2. Mai.
Zanboa ist sich bewusst, dass das Grundproblem die Gesamtbevölkerung betrifft. Er verweist auf bekannte Fakten: „Der Großteil der bewohnbaren Flächen ist in Privat- oder Unternehmensbesitz; die Mietpreise sind hoch.“ Mit seinem Projekt will er den Austausch, die Vernetzung fördern. „Wir müssen gemeinsam nach Lösungen für die Wohnungskrise suchen“, sagt er. „Es braucht eine ‚Bottom up‘-Herangehensweise, bei der sich die Betroffenen mit den Entscheidungsträgern zusammensetzen. Die ‚Municipality 101‘ gehört eingeschlossen: Flüchtlinge sollten nicht länger als Nutznießer, sondern als aktiver Teil der Gesellschaft verstanden werden.“
Grenzen
Er beschreibt die territorialen Grenzen, die Schutzsuchende überwinden müssen, um nach Europa zu gelangen. Im Ankunftsland würden sie dann mit vielschichtigen Barrieren konfrontiert: Sprache, Wohnungs- und Jobmarkt, soziale Klasse. Die Betroffenen würden deshalb in religiösen Zentren oder länderspezifischen Lebensmittelläden nach Anschluss suchen. Zanboa sitzt im Escher Stadtteil „Brill“, wenn er das erzählt, unweit der „Grenz“ und der „Hiehl“ – seit Jahrhunderten wichtige Ortsteile für Migrierende in Esch, die dort auf ähnliche Weise zusammenfanden.

César Reyes Nàjera, post-doktoraler Forscher am Institut für Geografie und Raumplanung der Universität Luxemburg, wohnt dem Interview mit Zanboa bei. Er hält sich bis zu dem Zeitpunkt zurück, doch an der Stelle äußert er sich. „Reagierten die Italiener auf die Nachfrage der Eisen- und Stahlindustrie oder die Portugiesen auf den Bedarf im Bausektor, verlassen Flüchtlinge ihr Land aus geopolitischen Ursachen“, vergleicht er die Situationen. „Sie suchen unter anderen Voraussetzungen nach einem Platz in der luxemburgischen Gesellschaft und werden anders aufgenommen. Umso wichtiger ist es, dass wir ihnen die aktive Beteiligung am gesellschaftlichen Leben ermöglichen. Andernfalls bleiben sie Bürger zweiter Klasse.“
Lösungen
Zanboa zögert mit der Antwort auf die Frage, wie die Beteiligung mit Blick auf die Wohnproblematik aussehen könnte. Er will unter anderem das Rundtischgespräch abwarten, das heute Abend im Zuge der Vernissage stattfindet (Details im Infokasten). „Ich habe Ideen“, sagt er und nennt das Konzept eines Bürgerrats. Eine Struktur, die auf „The Esch Clinics“ zurückgeht. „Dort kämen Experten aus allen relevanten Bereichen zusammen. Aus den über 8.000 Flüchtlingen würden Repräsentanten gewählt, welche diese Personengruppen vertreten.“ Zanboa schweben verschiedene Versammlungsorte vor. „Die Treffen sollten sowohl in Gemeindezentren als auch in den ONA-Einrichtungen stattfinden und allen Bürgern zugänglich sein.“ Die visuelle Identität seines Projekts spricht bis dahin eine andere Sprache: Es ist eine Adaptation der EU-Flagge mit Betten statt Sternchen. „Die Identität der Flüchtlinge wird auf den Platz reduziert, den es für ihre Unterbringung bedarf“, erklärt Zanboa.

Strebt er selbst in Zukunft eine künstlerische Karriere an? Die Verbindung zwischen Recherche und Kunst treibt ihn schließlich seit mehreren Jahren an: 2022 veröffentlichte er im Rahmen seines Studiums die Doku „All We Need?“ mit Arturas Certovas über die räumlichen Dimensionen von Belval – im Mai 2023 beteiligte er sich damit an der Ausstellung „From extraction to restitution“ im „Luxembourg Center for Architecutre“ (LUCA). Für die Fotos zu „After Arrival“ wurde er 2024 für den „Prix de la photographie“ in Clerf nominiert; im November desselben Jahres stellte er seine Arbeiten im „Salon du CAL“ aus. Nach seinem Studienabschluss arbeitete er kurz im LUCA. „Meine höchste Priorität ist es, einen festen Job zu finden“, sagt er. „Luxemburg ist gut zu mir und ich liebe es, hier zu leben, aber das Beispiel von Alborz Teymoorzadeh hat mir klargemacht: Es ist schier unmöglich, als freischaffender Künstler aus einem Drittstaat hier zu bleiben.“
De Maart

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