Die digitale Revolution ist unaufhaltsam. Es ist noch nicht lange her, dass in Luxemburg wie anderswo vorwiegend Euphorie – selbstverständlich mit einigen skeptischen, aber als störend empfundenen Zwischentönen – über den seit Ende des 20. Jahrhunderts festgestellten Wandel der meisten Lebensbereiche hin zu einem digital vernetzten Lebensstil herrschte. Der US-Ökonom Jeremy Rifkin, der einen nach ihm benannten, viel diskutierten Bericht über die Perspektiven Luxemburgs ablieferte, sprach gar von einer Dritten industriellen Revolution.
Claude Meisch, damals wie heute für das Bildungsressort verantwortlich, setzte auf iPad-Klassen und Digitalisierung des Unterrichts. Lernen mit Tablet und Laptop sollte Standard werden. Computer statt Bücher. Dass die Digitalisierung längst in der Form von Smartphones und Smartwatches in die Klassenzimmer Einzug erhielt, wurde zuerst nicht weiter thematisiert. Auch nicht die Auswirkungen auf die Sozialisation und Sprachkultur sowie das Kommunikationsverhalten der Kinder und Jugendlichen. Hinzu kamen die Herausforderungen der Künstlichen Intelligenz.
Mittlerweile ist man einige Schritte weiter und hat sich eines Besseren belehren lassen. Dass sich die digitalen Medien negativ auf „unsere mentale und physische Gesundheit, besonders bei Kindern und Jugendlichen“ auswirken können, hat Meisch am Montag eingangs der Präsentation seiner Sensibilisierungskampagne für eine gesunde „Screen-Life-Balance“ des Nachwuchses betont und verwies dabei auf Erfahrungen aus Dänemark.
Dänische Konterrevolution
Die Dänen galten lange als Vorreiter in der Digitalisierung der Schulen. Wie sich herausstellte, verbringen dänische Schüler fast doppelt so viel Zeit vor dem Bildschirm wie der Durchschnitt der OECD-Staaten. Mittlerweile haben sie die Konterrevolution ausgerufen. Denn mehrere Studien ergaben, dass etwa die Lese- und Mathematikkenntnisse von Schülern stark gesunken sind. Eine Untersuchung ergab, dass Kinder und Jugendliche, die viel Zeit mit Smartphones, Spielen, Filmen oder sozialen Medien verbringen, eher Konzentrationsprobleme haben als andere. Vor allem betrifft dies diejenigen, die Hausaufgaben machen oder am Unterricht teilnehmen und sich dabei gleichzeitig mit digitalen Medien beschäftigen.
Die dänische Bildungs- und Qualitätsagentur veröffentlichte im Februar zwölf Empfehlungen für die Bildschirmnutzung in Grundschulen und Freizeiteinrichtungen. Noch weiter ging Schweden, wo die Lehrer bereits Smartphones während des Unterrichts einsammeln können. Mittlerweile wird in vielen Ländern Europas über das Handyverbot im Schulalltag zumindest diskutiert – so etwa in Deutschland – oder es sogar praktiziert, wie das Schulportal der Robert Bosch Stiftung meldet.
In Frankreich und Italien gilt der Handy-Bann schon länger, in den Niederlanden seit Jahresbeginn. Und in Luxemburg? Claude Meisch verkündete zur Rentrée, dass ab Ostern 2025 hierzulande ein generelles Handyverbot an Grundschulen gelte. In den Sekundarschulen soll es ein Handyverbot im Unterricht geben, wobei eine „physische Distanz“ zwischen dem Schüler und seinem Handy bestehen soll. Dabei sollen die Schulen jeweils Regelungen ausarbeiten. Sie haben auch die Freiheit, ein völliges Handyverbot auszusprechen.
Nun werden mit der gestarteten Kampagne zur „Fir eng gesond Screen-Life-Balance vun eise Kanner“ vor allem die Eltern in die Verantwortung genommen. Die Empfehlungen lassen sich kurz zusammenfassen: „Keen Ecran ënner 3, keen eegene Smartphone ënner 12, keng sozial Medien ënner 15!“* Und er verwies auf die bereits festgestellten Folgen der übermäßigen Zeit vor den Bildschirmen. Nicht nur die Sprache werde nicht mehr so entwickelt wie in der vordigitalen Zeit, auch die nonverbale Kommunikation leide darunter. Konkrete Folgen des Überkonsums der digitalen Medien seien Schlafmangel und die Überforderung der Sinne.
Verlorene Zeit und reales Erleben
Meisch erinnert an die Vorbildfunktion von Eltern, Lehrern und Erziehern. Denn die Probleme sind in der Tat vielschichtig. „Was unsere Kinder dagegen wirklich brauchen“, so Meisch, „sind eigene Erfahrungen im direkten Austausch mit anderen – nach dem Motto: mehr miteinander reden statt scrollen.“ Die Stunden, die man am Smartphone verbringt, seien eine „verlorene Zeit“, in der man daran gehindert werde, „Wirkliches zu erleben“. Er bedauert den Verlust kostbarer Zeit, die man mit Freunden oder der Familien verbringen könne.
Der Minister nennt darüber hinaus das Cybermobbing, die Entwicklung eines falschen Körperbildes sowie einseitige Informationen als Gefahren, die mit der Nutzung der sozialen Medien einhergehen. Er spricht von der Gefahr, „in der digitalen Welt gefangen zu sein“. Allerdings wehrt er sich dagegen, als moralisierend bezeichnet zu werden. Der größte Irrtum wäre es jedoch, erklärt Meisch, „die Augen vor dieser Entwicklung zu verschließen“.
Letztere ist sicherlich unumkehrbar. „Es gibt keinen Weg zurück“, weiß Alain Massen von der Nationalen Elternvertretung, mit dem Meisch zusammen die Kampagne präsentierte. „Wir haben nun mal die Smartphones und können sie nicht mehr wegdenken.“ Er weiß, dass es einfach sei, einem Kind ein Smartphone oder ein iPad zu geben, gibt jedoch zu bedenken, dass viele Eltern mit der Situation überfordert seien. Massen erinnert sich an seine eigene Jugendzeit: „Damals gab es zu Hause einen einzigen Bildschirm, den Fernseher, und um den saß die ganze Familie herum.“ Der Fernseher als Lagerfeuer des analogen Zeitalters hat ausgedient. „Die Menschen reden nicht mehr miteinander“, so Massen. „Denken Sie nur an die Wartenden auf einem Bahnsteig. Fast jeder starrt auf sein Smartphone.“
„Bildschirme sind Fenster zur Welt“, heißt es im Rahmen der Kampagne. „Sie ermöglichen den Zugang zu Informationsminen oder riesigen virtuellen Vergnügungsparks. Sie können aber auch unsere gesamte Aufmerksamkeit monopolisieren und uns in einer ‚digitalen Blase‘ festhalten. Kinder sind ebenso betroffen wie Eltern.“ Die Kampagne basiert auf Empfehlungen des französischen Psychiaters und Psychologen Serge Tisseron, der seit längerem auf die Gefahren, die von Bildschirmen ausgehen, hinweist.
Das falsche digitale Versprechen
Mit dem Einsatz digitaler Medien können die Defizite des Bildungssystems sicherlich nicht ausgeglichen respektive behoben werden. Es wäre ein „falsches Versprechen“, wie es die deutsche Wochenzeitung Der Freitag kürzlich nannte. In der Tat haben die digitalen Medien die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen können. Die positiven Lerneffekte des Einsatzes digitaler Technik seien bestenfalls durchschnittlich, konstatiert der neuseeländische Pädagoge John Hattie in der Neuauflage seiner Metastudie „Visible Learning“. Er fasst seine Erkenntnisse mit folgender Formel zusammen: „But it is not IT; it is ITT – it’s the Teaching.“
Der deutsche Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Tim Engartner, Autor des Buches „Raus aus der Bildungsfalle“, warnt vor dem blinden Glauben an das Credo „Digital ist besser“ und der Gefahr, dass sich die Digitalisierung als „trojanisches Pferd“ von US-Tech-Giganten entpuppen könne. Er verweist auf die nach wie vor herausragende Bedeutung des Auswendiglernens für das Trainieren des Erinnerungsvermögens und auf die verloren gegangene Einsicht, „dass Bildung nicht nur dem Vergnügen dient“.
Statt der Diktatur der Algorithmen sind heute umso mehr qualifizierte Lehrkräfte gefragt, denen im Klassenzimmer der Spagat zwischen analogem Unterricht und digitaler Welt gelingt. Die eigentlichen Probleme und Herausforderungen des Schulsystems – Bildungsungleichheit, Verrohung des Schulalltags unter Schülern, etc. – sind damit zwar nicht gelöst. Aber das Erlernen empathischer Fähigkeiten und sozialer Kompetenzen kann eben nur von Menschen gelehrt werden, nicht von einer Künstlichen Intelligenz.

* Weiter ausformuliert: 0-3 Jahre: jeglichen Kontakt mit Bildschirmen vermeiden; 3-6: passende Inhalte auswählen; 6-9: unterstützen Sie den Einsatz digitaler Tools; 9-12: vermeiden Sie das Smartphone; 12-15: zu früh für soziale Netzwerke; ab 15: bleiben Sie wachsam. Weitere Infos unter: www.secher.digital; www.eltereforum.lu; www.bee-secure.lu
De Maart

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