ForumIndiens große Arbeitsmarkt-Herausforderung

Forum / Indiens große Arbeitsmarkt-Herausforderung
  Foto: dpa/Rajanish Kakade

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Indien scheint derzeit jedermanns liebste Wachstumsstory zu sein. Trotz begründeter Bedenken über die Korrektheit der offiziellen Statistiken wird prognostiziert, dass die indische Wirtschaft 2024 um 6,3 Prozent wachsen wird – eine unbestreitbar bemerkenswerte Leistung angesichts eines BIP von mehr als 4,1 Billionen US-Dollar. Während Indien mit einem Pro-Kopf-Einkommen von unter 3.000 Dollar (zu Marktwechselkursen) ein Land unteren mittleren Einkommens bleibt, legt sein starkes Wachstum nahe, dass sein wirtschaftliches Potenzial größer sein könnte als erwartet.

Doch jeder Optimismus über Indiens wirtschaftliche Aussichten wird zwangsläufig durch Indiens Unfähigkeit gedämpft, zwei miteinander verbundene Herausforderungen zu bewältigen. Die erste ist die ungleiche Verteilung der Vorteile des starken Wirtschaftswachstums, die vorwiegend den obersten 10-20 Prozent der Einkommensbezieher zugutekommen.

Dass Indien seit 2011/12 keine Konsumzahlen veröffentlicht hat, erschwert zuverlässige Schätzungen der potenziellen Zunahme der Ungleichheit und der Armut. Derartige Schätzungen stützen sich stark auf Umfragen zu den Verbraucherausgaben, die in der Regel alle fünf Jahre durchgeführt werden. Doch weil die Ergebnisse nicht zu ihrem bevorzugten Narrativ passten, hat die Regierung von Premierminister Narendra Modi die Befragung des Jahres 2017/18 unterdrückt, und sie hat sich geweigert, Folgeumfragen durchzuführen, obwohl aktuelle Daten für eine faktengestützte Politik unverzichtbar sind.

Löhne der meisten Arbeitnehmer stagnieren

Darüber hinaus wurde der alle zehn Jahre durchgeführte Zensus, der eigentlich 2021 hätte abgeschlossen sein sollen, auf unbestimmte Zeit verschoben. Entsprechend wissen weder Regierung noch Bürger, wie viele Menschen es in Indien gibt, wo sie leben oder was ihre Lebensbedingungen und ihr Beschäftigungsstatus sind. Jedoch legen verschiedene Kennzahlen nahe, dass die Einkommen der Spitzenverdiener steil gestiegen sind, während die Löhne der meisten Arbeitnehmer, insbesondere der unteren Hälfte der Einkommensverteilung, stagnierten oder zurückgegangen sind.

Die zweite große Herausforderung, vor der Indien steht, ist, dass das starke BIP-Wachstum nicht genügend Arbeitsplätze hervorgebracht hat, um die junge Bevölkerung aufzunehmen. Da jedes Jahr dutzende Millionen hochgebildeter junger Leute auf den Arbeitsmarkt drängen, drohen unerfüllte Erwartungen und wachsende soziale Unruhe die mit Spannung erwartete „demografische Dividende“ in eine Katastrophe zu verwandeln.

Indien tut sich schon lange schwer, Arbeitsplätze zu schaffen, und insbesondere während des vergangenen Jahrzehnts. Laut regierungseigenen Erhebungen zur Beschäftigung ist die Beschäftigungsquote von 38,6 Prozent im Jahr 2011/12 auf 37,3 Prozent im Jahr 2022/23 gesunken. Offizielle Statistiken zeigen zudem, dass der Frauenanteil an der Erwerbsbevölkerung auf bloße 20,8 Prozent gefallen ist. Doch selbst diese Zahl ist zu hoch angesetzt, da die Regierung in seine Definition von Erwerbstätigen auch „unbezahlte Hilfskräfte in Familienunternehmen“ aufgenommen hat.

Indien ist das einzige Land, das bei den Beschäftigungsdaten einen derartigen Ansatz verfolgt. Unbezahlte Hilfskräfte als „selbstständig“ einzustufen, obwohl sie kein Geld verdienen, läuft anerkannter internationaler Praxis zuwider; diese setzt für eine Erwerbstätigkeit eine Vergütung entweder in Gestalt von Löhnen und Gehältern oder aus selbstständiger Tätigkeit voraus. Zudem werden andere Formen unbezahlter Arbeit – wie Hausarbeit und Pflegetätigkeit – in Indien nicht als Erwerbstätigkeit eingestuft. Frauen, die weiterhin den überwiegenden Teil der Hausarbeit leisten, gelten nicht als Teil der Erwerbsbevölkerung.

Schließt man die unbezahlten Arbeitskräfte aus, ergibt sich eine deutlich geringere Beschäftigungsquote, als die offiziellen Zahlen nahelegen. Im Jahr 2022/23 gingen 48 Prozent der Männer in Indien einer bezahlten Beschäftigung nach, verglichen mit lediglich 13 Prozent der indischen Frauen. Das ist eine der niedrigsten Beschäftigungsquoten von Frauen weltweit.

Schlechte Beschäftigungschancen trotz BIP-Zunahme

Dies unterstreicht die größte Schwäche von Indiens viel gepriesenem Wachstumsmodell: Seine Unfähigkeit, trotz starken Zunahmen des Gesamt-BIP, Beschäftigungschancen – selbst relativ niedrig bezahlte, minderwertige Arbeitsplätze – hervorzubringen. Es überrascht daher kaum, dass die Reallöhne während des vergangenen Jahrzehnts weitgehend stagnierten.

Bemerkenswert ist, dass die Reallöhne selbst unter den Beschäftigten in der Landwirtschaft, wo der stärkste Anstieg der Reallöhne zu verzeichnen war (auch wenn er im Schnitt bei bescheidenen 0,9 Prozent lag), zwischen 2014/15 und 2021/22 in wichtigen Bundesstaaten wie Haryana, Kerala, Punjab, Rajasthan und Tamil Nadu tatsächlich gesunken sind. Zugleich ist etwa die Hälfte der Erwerbsbevölkerung Indiens weiterhin in produktivitätsschwachen Sektoren tätig, auf die lediglich ein Fünftel des Nationaleinkommens entfällt.

Folglich bleibt der Massenkonsum beschränkt. Dies könnte die mangelnde Bereitschaft der Regierung erklären, Erhebungen zu den Verbraucherausgaben durchzuführen, und hat zum steilen Rückgang der Inlandsinvestitionen beigetragen, die von in der Spitze 42 Prozent vom BIP in 2006/07 auf rund 31 Prozent in 2022/23 gesunken sind. Darüber hinaus sind grundlegende Kennzahlen zur menschlichen Entwicklung, insbesondere zur Ernährung, in den letzten Jahren schlecht geblieben oder haben sich sogar verschlechtert. Das steht im Zusammenhang mit den niedrigen öffentlichen Ausgaben für Gesundheit, Bildung und soziale Absicherung.

Bedauerlicherweise scheint die Schaffung von mehr qualitativ hochwertigen Arbeitsplätzen keine Spitzenpriorität der Regierung Modi zu sein. Die Wirtschaftsstrategie der Regierung konzentriert sich stattdessen darauf, mittels aus Steuermitteln finanzierter Subventionen und regulatorischer Veränderungen „Anreize“ für eine ausgewählte Gruppe von Investoren zu setzen. Die Bedürfnisse der großen Mehrheit der Kleinst-, Klein- und mittelständischen Unternehmen, die den größten Teil der indischen Erwerbsbevölkerung beschäftigen, werde häufig übersehen. Zudem wurden diese Unternehmen durch politische Fehler wie das Demonetisierungsprojekt, bei dem 2016 86 Prozent der indischen Währung für ungültig erklärt wurden, und die schlecht konzipierte und übereilt umgesetzte Steuer auf Waren und Dienstleistungen des Jahres 2017 in Mitleidenschaft gezogen.

Ohne weitreichende Reformen, die darauf zielen, Arbeitsplätze zu schaffen und eine menschenwürdige Entlohnung zu garantieren, wird Indien sich schwertun, echte wirtschaftliche Erfolge zu erzielen. Die im April und Mai anstehenden Parlamentswahlen bieten den indischen Wählern eine Chance zu einer nachhaltigeren, faireren Neuausrichtung der indischen Volkswirtschaft. Sie dürfen diese Chance nicht vertun.

(Aus dem Englischen von Jan Doolan)

* Jayati Ghosh ist Professorin für Volkswirtschaft an der University of Massachusetts in Amherst und Mitglied der Transformational Economics Commission des Club of Rome sowie Co-Vorsitzende der Unabhängigen Kommission für die Reform der internationalen Unternehmensbesteuerung (ICRICT).

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