Interview (Teil 2)„Ich will kein Flüchtling sein“ – Dolmetscherin verliert in Differdingen die Fassung

Interview (Teil 2) / „Ich will kein Flüchtling sein“ – Dolmetscherin verliert in Differdingen die Fassung
Anna könnte am Boden zerstört sein: Ist sie aber nicht. Die junge Ukrainerin will sich nicht in die Opferrolle drängen lassen. Fotos: Tom Jungbluth

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Aus einem Interview wird ein Streitgespräch: Im zweiten Teil unserer Tageblatt-Serie „Flüchtling“ haben wir mit der Ukrainerin Anna gesprochen – irgendwann verliert ihre Dolmetscherin Natascha die Fassung. Was ist passiert?

Die Szene ist leicht surreal – und doch nur allzu menschlich. Kriegsflüchtling Anna Semianysta (35) hat eben von ihrer Flucht nach Differdingen erzählt. Sie hat großes Glück: Sie kann samt Ehemann, zwei Kindern, zwei Babuschkas und zwei Haustieren im Elternhaus der Familie Pantaleoni leben.

Die Ukrainerin ist offen, hat schwarzen Humor und ist nicht leicht unterzukriegen. Sie spricht nicht wie ein Flüchtling. Im Laufe des Interviews sagt Anna: „Wir wussten, dass wir packen müssen und gehen. Wir erwarteten nicht, dass Europa uns mit offenen Armen empfangen würde: Niemand will Flüchtlinge.“ Historikerin und Dolmetscherin Natascha Pantaleoni, die auch Vizepräsidentin der Friedensinitiative „Pour la Paix et contre la Guerre Asbl“ ist, wird nervös.

Anna beschreibt die Realität: „Es ist einfach, zu helfen, wenn du spendest. Aber es ist etwas anderes, die Tür zu deinem Haus zu öffnen. Das ist schwer. Und ich kann die Menschen verstehen. Sie teilen nicht nur ihr Zuhause, sondern auch ihre Arbeitsplätze mit uns. Mehr als zwei Millionen Ukrainer wurden zur Flucht gezwungen. Das sind viele Menschen. Wir sind bereit, für niedrigere Gehälter zu arbeiten. Das sind bittere Realitäten. Verstehst du das?“

Es ist brutal. Es ist wahr. Nicht weniger realistisch: „Flüchtlinge werden dadurch zur Belastung für Europa. In einem Jahr müssen wir wahrscheinlich die Europäer fragen: „Wie geht es euch mit diesem ganzen Krieg?“ Natascha platzt zum ersten Mal der Kragen. Sie kann Annas Resignation nicht akzeptieren. „Es gibt einen anderen Ausweg: Macht den Gashahn jetzt zu! Keine Öllieferungen, keine Gaszahlungen, finanziert nicht Putin! Dann bleiben die Ukrainer zu Hause! Das ist der andere Weg: Finanziert nicht den Krieg, dann bleiben die Ukrainer alle zu Hause!“

Natascha platzt endgültig der Kragen, als Anna sagt, sie habe keinen Einfluss auf die Politik. Die sehr liebevolle und sanfte Dolmetscherin kann ihr Aktivistenherz nicht mehr bändigen. Annas Ohnmacht, aber auch ihre eigene, lässt sie kurz die Fassung verlieren: „Es gibt zahlreiche Informationen über Beschüsse auf eine Geburtsklinik in Mariupol. Die russische Seite sagt aber: Sie schießen nicht auf Zivilisten, sie haben keine überprüften Informationen.“ (Natascha wird richtig wütend). Lieber Herr Journalist, geh mal selber hin, und prüfe diese Informationen vor Ort. Das ist das Spiel für die russische Seite. Wenn wir alle sagen, wir haben keine geprüften Informationen, weil gerade Krieg herrscht, spielen wir das Spiel von Herrn Putin. Und wir verbreiten hier die Lüge, dass es nicht so schlimm ist, wie die Ukrainer sagen. Das ist einfach eine Lüge. Man muss einfach wahrnehmen, dass die Menschen dort sterben: Schwangere, Neugeborene.”
So endete Teil 1. Hier beginnt Teil 2.

Historikerin und Dolmetscherin Natascha Pantaleoni ist selbst Exil-Ukrainerin. Sie erträgt das Leid ihrer Landsleute nicht mehr und kritisiert die Presse scharf.
Historikerin und Dolmetscherin Natascha Pantaleoni ist selbst Exil-Ukrainerin. Sie erträgt das Leid ihrer Landsleute nicht mehr und kritisiert die Presse scharf.

Historikerin und Übersetzerin Natascha schnaubt kurz. Anna will etwas sagen. Natascha fährt weiter: Das können wir tun! All das können wir laut sagen!

Tageblatt: Ich verstehe das. Ich akzeptiere die Kritik.

Anna: „Yeaaaah“. (muss laut lachen) Ich bin so froh, dass ich sie kenne. Es ist eine schöne Geschichte, wie wir uns kennengelernt haben.

Erzähl sie uns.

Wir haben eine gemeinsame Freundin. (Sie sagt den Namen, es ist unmöglich, ihn zu verstehen). Natascha stammt auch aus Donezk. Wusstest du das?

Ich vergesse das immer wieder.

Unsere Freundin ist auch aus Donezk.

(Natascha klinkt sich ein, sagt etwas zu Anna, dann): Die Geschichte hat nicht genau so angefangen.
(Anna lacht, Natascha übernimmt weiter): Darf ich einen kleinen Exkurs machen?

Klar.

Ich bin in Donezk geboren. Ich habe das Land verlassen, als noch Frieden herrschte. Ich bin nicht geflüchtet. Ich bin in Luxemburg glücklich eingeheiratet. Ich wollte eine ruhige Hausfrau sein. Nur: 2014 beginnt der Krieg in meinem Zuhause in Donezk. Ich bin mir sicher: Damals gab es keinen Hass zwischen Russen und Ukrainern. Ich war zuletzt 2013 in Donezk: Die Menschen lebten gut zusammen. 2014 beginnt der Krieg. Dann fangen wir an, den Menschen zu helfen. Claude (Pantaleoni, ihr Ehemann, Anm. d. Red.) organisierte die Hilfe im Gymnasium (er arbeitet im Escher Jongelycée, Anm. d. Red.). Wir sammelten Kleider für die Menschen. Es dauerte eben nicht zwei, drei Monate, wie Denis hoffte (Annas Ehemann erzählte das im ersten Interview). Die Menschen konnten also nicht nach Donezk zurück.

Was bedeutete das für sie?

Sie hatten keine Kleider, keine Schuhe. Wir haben riesige Sammlungen gemacht. Ich habe bei uns zu Hause eine riesige Kleiderkiste gehabt. Ich habe die Menschen in Donezk kontaktiert. Ich habe gelesen, wie die Russen vorgingen. Alle, die nicht russisch-orthodox waren, wurden zuerst getötet. Ich habe dann die griechisch-katholische Gemeinschaft kontaktiert. Sie haben mir ihre Listen geschickt: „Hier sind die Familien aus Donezk. Sie haben nichts zum Leben.“ Wir haben gezielt für diese Familien Spendenpakete gemacht. Unter ihnen: Anna und Denis mit ihrem Kind. Ich hatte sie damals noch nicht gesehen. Wir haben alles geschickt.

Und dann?

Nach ein paar Jahren haben wir bemerkt: Der Krieg endet nicht. Es ging einfach weiter. Dann haben wir unseren gemeinnützigen Verein gegründet: „Pour la Paix et contre la Guerre Asbl – Ad pacem servandam“. Wir blieben aber in Verbindung mit den Familien, denen wir Hilfe geschickt haben. Wir sind nicht so ein Riesenverein wie „LUkraine ASBL“. Aber wir bleiben persönlich mit den Menschen in Kontakt. Und wenn wir helfen können, helfen wir so lange, bis die Familie selbstständig ist. So, dass sie allein überleben kann. Wir sind uns bewusst: Wir können nicht die ganze Menschheit retten. Aber dort, wo wir helfen, wollen wir vom Anfang bis zum Schluss bleiben. Dann haben wir Hilfsaufrufe gemacht. Es gab einen Betrieb in Frankreich.

Was war mit dem?

Der hat uns vorgeschlagen: „Ich kann einen Arbeiter bei mir aufnehmen“. Dann habe ich bei unseren Familien Aufrufe gemacht: Gibt es hier einen Bauarbeiter, Maler, alles Mögliche? Wir haben hier vielleicht eine Arbeitsstelle. Dann hat sich der französische Betrieb wieder zurückgezogen. Aber Denis (Annas Ehemann, Anm. d. Red.) hatte sich schon bei uns gemeldet. Was machen wir jetzt? „Komm zu uns, wir geben dir Arbeit, ich habe genug Arbeit bei mir. Ich bezahle dich dafür“.

Ich habe es damals gespürt: Die Ukraine wird geopfert – niemand wird etwas für die Ukrainer tun.

Natascha Pantaleoni, Dolmetscherin, Historikerin und Vizepräsidentin „Ad pacem servandam Asbl“

Und dann?

Denis kam dann paar Mal zu uns. Er kehrte aber immer wieder zu seiner Familie nach Pawlohrad zurück (erste Station, wohin Anna und Denis nach dem Krieg im Donbass flüchten mussten, Anm. d. Red.). Seitdem hat uns der Krieg nicht mehr losgelassen. Wir haben mehrere Ereignisse organisiert. Wir haben zum Beispiel den Schweizer Forscher Dr. Bruno Schoch eingeladen, als das Thema aktuell war. All diese Fragen: Darf die Ukraine in die NATO? Darf sie hier, darf sie das? Ich habe es damals gespürt: Die Ukraine wird geopfert – niemand wird etwas für die Ukrainer tun.

Auf was willst du genau hinaus?

Dann kam Putins Ultimatum an Westeuropa: Entweder ihr verzichtet auf die Stationierung von Raketenabwehrsystemen und die NATO zieht sich auf die Stationen von 1997 zurück, oder es gibt Krieg. Da sagte Claude zu mir: „Wir müssen etwas tun. Sag ihnen allen, sie müssen rausfahren.“ Ich kontaktiere also die Familien, organisiere ihnen einen Zufluchtsort in der Ukraine und habe ein Haus gemietet, wo die Leute auf dem Fluchtweg hingehen können.

Wie muss man sich das vorstellen?

Dort können sie übernachten, schlafen, Hilfe bekommen. Wir haben schon vor dem Krieg Geld geschickt, wenn sie Essen brauchen, Miete bezahlen müssen, damit sie das organisieren können. Die normalen Ukrainer haben nicht genug Geld dafür. So konnte Annas Familie dort ruhig schlafen. Auch andere Menschen sind jetzt dort gut versorgt.

Du hattest also eine böse Vorahnung.

Ja, es war das Gefühl: Es fängt jetzt … wenn nicht heute, dann vielleicht morgen an. Darum habe ich Anna direkt angerufen: „Wenn etwas ist, komm direkt! Warte nicht!“. Ich habe leider viele Freunde, die das nicht gehört haben.

Wie meinst du das?

Ich habe zum Beispiel eine Person in der Ukraine, die das Geld unseres Vereins an Personen in Not verteilt. Sie hat selber eine gelähmte Mutter in Butscha (ukrainische Stadt mit rund 27.000 Einwohnern, Anm. d. Red.). Ich habe seit fünf Tagen keine Verbindung zu ihr: Sie hungert wahrscheinlich. Alles ist zerstört, sie können nicht raus. Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sie nicht mehr lebt (Das Interview wurde am 11.3.2022 geführt. Am 15.3. war die Situation in Butscha laut dem Chef der Regionalverwaltung im Großraum Kiew, Oleksij Kuleba, folgende: „Viele Straßen (in diesen Gegenden) wurden in einen Brei aus Stahl und Beton verwandelt. Die Menschen verstecken sich seit Wochen in Kellern und haben Angst, hinauszugehen, selbst für Evakuierungen“, Anm. d. Red.).

Ich lebe im Schrecken, dass ich die Nachricht erhalte, dass viele meiner Freunde nicht mehr leben

Natascha Pantaleoni

Kennst du weitere Fälle?

Ich kenne weitere Menschen in Irpin (nahe Kiew, Anm. d. Red.). Die Menschen, die schon einmal aus Donezk geflüchtet waren, konnten sich nichts Großes in Kiew leisten. Sie gingen alle in die Vororte. Und diese Vororte werden jetzt massiv bombardiert. Es gibt so viele Tote. Ich lebe im Schrecken, dass ich die Nachricht erhalte, dass viele meiner Freunde nicht mehr leben und … (Natascha redet wieder ruhig, pausiert kurz) … darum bin ich so emotional (sie lächelt leicht erschrocken).

Das ist sehr menschlich, kein Problem.

(Anna wirkt erschlagen): Ja … wir kennen uns … wir haben viele gemeinsame Bekannte …

Geht es dir auch wie Natascha? Hast du auch noch viele Freunde und Familienmitglieder, die zurückbleiben mussten?

Ähm … Ja, meine Mutter hat noch drei adoptierte Kinder. Sie leben dort mit ihren Familien. Zwei in Dnipro (rund 1 Mio. Einwohner, viertgrößte Stadt, Anm. d. Red.). Und eine davon in Charkiw (rund 1,5 Mio., zweitgrößte Stadt, Anm. d. Red.). Sie will nicht umziehen mit ihren drei Kindern (Annas Fröhlichkeit ist weg). Mein Bruder ist in Terebowlja (rund 15.000 Einwohner, Westukraine, Anm. d. Red.). Er kämpft jetzt für die Verteidigungseinheiten in Dnipro.

Was heißt das?

Es ist nicht gerade die Armee, sondern eine Bürgerverteidigung.

Ist er Partisan?

Ja. Und … Dnipro wurde heute (11.3.2022, Anm. d. Red.) zum zweiten Mal bombardiert (Stand 15.3.2022: Laut AFP wurde der Flughafen der Stadt Dnipro in der Ostukraine weitgehend zerstört, Anm. d. Red.).

Bist du mit ihm in Kontakt? Schreibt ihr euch?

Ja, ich bin mit ihm in Kontakt.

Also ist er noch … kann man ihn noch kontaktieren? (Gestammel, um nicht herzlos zu fragen, ob Annas Bruder noch lebt).

Ja, das klappt zum Glück immer noch. Meine jüngere Schwester ist Krankenschwester. Für sie ist es unmöglich, wegzugehen. Sie arbeitet in einem Krankenhaus. (Anne zückt ihr Handy und zeigt plötzlich Bilder). Das ist meine Familie und der Vater eines Freundes. Er ist zu alt zum Fliehen. Er ist also bei seinem Sohn in Dnipro geblieben. (räuspert sich zum ersten mal) Das ist meine ganze Familie … in der Ukraine. Ähm … aber wir sind glücklich, dass wir hier sind. Die ganze Familie. Ich weiß nicht, was ich tun würde … wenn mein Mann noch in der Ukraine wäre.

Anna zeigt beim Erzählen Fotos: Sie hat ihre Flucht mit viel Liebe dokumentiert
Anna zeigt beim Erzählen Fotos: Sie hat ihre Flucht mit viel Liebe dokumentiert

Wir haben uns vorher sehr lange mit ihm unterhalten. Was geht in Denis vor?

Für Männer ist es meistens … schwerer, etwas zu verlieren.

Du gehst zum Streik, ich hole Spielzeug

Anna Semianysta , Kriegsflüchtling aus der Ukraine

Das fühlte sich auch so beim Gespräch an.

Ja, Frauen haben einen Vorteil: Wir können reden (schmunzelt). Gestern hatten wir zum Beispiel einige Ukrainerinnen hier. Das tut gut. Ehrlich: Tee trinken, ein wenig Gossip und … gelegentlich ein wenig weinen. Wir teilen unsere Emotionen. „Du gehst zum Streik, ich hole Spielzeug. Ich bringe dir ein wenig Fleisch vorbei …“ Wir sind o.k. Ich kann sie anrufen und sagen: (knurrt wie ein Tiger) „Grrr, so ein Mist!“ Und dann ist es o.k. Denis ist allein hier (Die Wehrpflicht in der Ukraine hindert Männer an der Flucht, Anm. d. Red.). Die einzige Person, mit der er etwas teilen und diskutieren kann, ist Claude. Das war’s. Er kennt niemanden hier.

Flüchtlinge aus der Ukraine erfahren in Luxemburg unglaublich viel Hilfsbereitschaft. Dass wir nicht mit allen Schutzsuchenden so umgehen, hat mit Rassismus zu tun. Die Ukrainer sind nicht „so weit weg“ wie die Syrer. Ein Beispiel: Anna hat ein kleines, dezentes Tattoo am Oberarm, das auch jeder Hipster bei uns tragen würde.
Flüchtlinge aus der Ukraine erfahren in Luxemburg unglaublich viel Hilfsbereitschaft. Dass wir nicht mit allen Schutzsuchenden so umgehen, hat mit Rassismus zu tun. Die Ukrainer sind nicht „so weit weg“ wie die Syrer. Ein Beispiel: Anna hat ein kleines, dezentes Tattoo am Oberarm, das auch jeder Hipster bei uns tragen würde.

Ich habe Denis gar nicht gefragt: Hat er Hobbys?

Er mag Sport. Er ging in Thionville zum Fitness. Ich denke, es ist schwer für ihn. Aber: Seit Claude ihm gesagt hat, dass er ihm mit der Unterkunft, den Dokumenten und den kleinen Schritten zu einem normalen Leben hilft, geht es ihm besser. Jetzt kann er Claude mit der ehrenamtlichen Arbeit helfen. Er ist ein wenig beschäftigt. Es ist o.k. Er war sehr nervös, als ich mit der Familie geflüchtet bin. Er konnte uns nicht erreichen.

Ich habe das gesehen. Es ging ihm fast kein Wort mehr über die Lippen.

Er blieb 24 Stunden mit mir am Handy. Um sicher zu gehen, dass ich nicht einschlafe. „Red mit mir, red mit mir, red mit mir.“ Er war gestresst – sehr. Ich glaube, sobald er einen Job hat und Claude weiterhelfen kann, geht es ihm besser.

(Kurze Unterbrechung. Annas Mutter kommt rein und sagt etwas. Natascha übersetzt: Die Großmutter ist verschwunden. Jeder muss lachen).

Anna spricht wieder: Also … ich lasse ihn einfach in Ruhe.

Ist das schwer?

Als wir zum ersten Mal aus Donezk geflohen sind, wollte ich ihm helfen. Das war ein Desaster. (lächelt)

Annas Ehemann Denis hat es nur schwer verkraftet, dass seine Familie alleine durchs Kriegsgebiet fliehen musste
Annas Ehemann Denis hat es nur schwer verkraftet, dass seine Familie alleine durchs Kriegsgebiet fliehen musste

Was hast du probiert?

Wir haben nach Donezk sehr viel verloren. Wir hatten ein Haus, fast im Zentrum von Donezk. Er hatte einen guten Job. Er arbeitete mit seinen Freunden. Sie hatten gute Aufträge (Denis ist Ökonom, arbeitete aber wegen der angespannten wirtschaftlichen Lage als Maurer, Anm. d. Red.). Ich habe mit Amerikanern für Übersetzungsarbeiten gearbeitet, wir hatten genug Geld. Dann flohen wir … (pausiert plötzlich, denkt nach) Hier haben wir ein Haus mit drei Stockwerken, einem Parkplatz … als wir aus unserem Haus in Donezk nach Pawlohrad geflohen sind, hatten wir ein Einzimmer-Studio. Aber kein Gewöhnliches.

Wie meinst du das?

(Natascha erklärt, sie muss nicht nur wortwörtlich übersetzen, sondern auch noch „traduction interculturelle“ leisten): Es ist noch kleiner als eine Einzimmerwohnung. Es ist wie ein Wohnheim. Nur: Bei einem Wohnheim hast du ein Klo für das ganze Stockwerk. Hier hast du aber Badezimmer und Toilette separat zu diesem Zimmer. Aber es ist wirklich sehr klein.

(Anna übernimmt wieder): Es ist wirklich ein winziges Zimmer. Für eine Person. Nichts war repariert. Damals war es schwerer für uns, zu verstehen, was wir tun sollen. Dieses Mal waren wir ein wenig vorbereitet (Sie lacht wieder voller Freude). Wir haben damals gewitzelt: Sobald wir fertig sind mit dem Reparieren, müssen wir umziehen. Ich glaube darum, dass es für Männer härter ist, so etwas durchzumachen.

Unsere Männer sollten sich vom Psychologen helfen lassen

Anna Semianysta

Das klingt sehr schwer. Was machst du heute anders?

Wenn ich etwas selbst machen kann, wie zum Beispiel einkaufen zu fahren, mache ich das. Ich frage ihn nicht. Er kann dann machen, was er will. Ich erzähle ihm auch nicht alles. Das mache ich heute mit meinen Freundinnen. Weißt du, ich nerve ihn nur ungern mit „Blabla“ (imitiert Gossip, den es auch in der Herrenwelt gibt, sehr selbstironisch). Ich kann Natascha anrufen: Ihre älteste Tochter kann sich kurz um meine Kinder kümmern. Dann können wir zu Hause einfach mal in Ruhe Kaffee trinken. Es hilft auch sehr viel, wenn wir einfach mal mit Natascha und Claude reden. Unsere Männer sollten sich vom Psychologen helfen lassen (lacht).

Das würde ich so unterschreiben. Wir fressen alles in uns rein.

Den Kindern geht es zum Beispiel auch o.k. In Pawlohrad hatten wir am Anfang auch keine Freunde. Als Denis dann anfing, Sport zu machen, hatte er einen Freundeskreis: Er wurde ein Teil von Pawlohrad. Jetzt haben wir alles zurückgelassen.

Wie fühlt sich eine Stadt ohne Freunde an?

Ich war eine Lehrerin: ich rede also gerne. Meine Aktivität bestand darin, mit Menschen zu reden. Ich war also nicht so allein wie er. Das merke ich auch jetzt: Ich bin mit all den Menschen in gutem Kontakt, die uns die vielen schönen Dinge gegeben haben. Ich bin o.k. Ich unterrichte online, ich will ukrainischen Kindern beim Englischlernen helfen: Ich bin zu beschäftigt, um mich zu langweilen.

(Natascha klinkt sich wieder ein): Darum brauchst du aber kein falsches Bild von den Flüchtlingen zu geben. „Wir sind alle in Ordnung, also muss niemand etwas tun“ (klatscht in die Hände, um getane Arbeit der Politik zu symbolisieren).

Das hier ist ihre Realität. Das ist stärker als eine tränenreiche Show. Ich schätze diese Ehrlichkeit sehr.

(Anna antwortet) Es ist wie in der Wildnis: Wenn du nicht schnell genug läufst, wirst du gefressen.

Ich verstehe das. Ich musste bei dem einen oder anderen Satz schlucken.

Ich will kein Flüchtling sein.


Lesen Sie hier Teil 1 des Interviews: Liebevolle Luxemburger, beknackter Behördendschungel: Eine Ukrainerin erzählt

Hier finden Sie die Story zu Annas Ehemann und zum Hintergrund dieser Serie: „Das ist meine Heldin“ – Unser Leben als Ukrainer in Differdingen

Krieg in der Ukraine

Russland intervenierte bereits 2014 militärisch, als nach Massenprotesten der prorussische Präsident Viktor Janukowitsch geschasst wurde. Moskau annektierte die ukrainische Halbinsel Krim. Der Krieg hatte weitreichende Folgen: Die europäische Friedensordnung wurde infrage gestellt, die Ukraine als Spielball der Großmächte bei der Verhandlung sicherheitsstrategischer Fragen instrumentalisiert. Moskau stützte im Donbass prorussische Milizen und Separatisten. Putin destabilisierte das Land an seiner russischen Flanke. Die USA und die EU bestraften Russland wiederum mit Sanktionen.

Die Minsker Abkommen und das sogenannte Normandie-Verhandlungsformat waren der Versuch, den Krieg in der Ostukraine zu beenden. Er wurde aber nur eingedämmt: Über 14.000 Menschen starben. Russland lieferte sich in der Zwischenzeit mit den USA Stellvertreterkriege. Besonders brutal: wie die geopolitischen Interessen auf dem Rücken der syrischen Bevölkerung ausgetragen wurden. Seit der Eskalation dieses Konflikts ging es eigentlich nur noch bergab mit den Beziehungen. Die Trump-Präsidentschaft kann als Ära eines erpressbaren „useful idiot“ bezeichnet werden.

Mit der Wahl Joe Bidens zum US-Präsidenten traf Putin auf einen Gegenspieler, den er noch aus dessen Zeit als Vizepräsident von Barack Obama kannte. Während Obama Putin öffentlich brüskierte, aber zum Beispiel bei den berühmten „roten Linien“ in Syrien zögerte, auf direkte militärische Konfrontation mit Russland zu gehen, galt Biden als der angriffslustigere Part. Während seiner Präsidentschaft scheint Biden jedoch auf die gleichen realpolitischen Probleme wie Obama zu treffen: Putin stellt die immer gleichen Forderungen (keine NATO-Osterweiterung usw.), ist unberechenbar – und geht notfalls mit der militärischen Brechstange vor.

Die Vorboten für den aktuellen Ukraine-Krieg gab es am 21. Februar 2022: Der russische Staatsterrorist erkennt die selbst ernannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk an. Soldaten werden später in die Separatistengebiete entsandt. Der Konflikt eskaliert zunehmend. Am 22. Februar wird die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2 von den Deutschen auf Eis gelegt. Am 23. Februar kündigt der ukrainische Präsident Selenskyj den Ausnahmezustand an. Die Separatisten in der Ostukraine bereiten Putins Angriffskrieg vor: Sie bitten Moskau um Militärhilfe. Am 24. Februar geschieht das für die Weltgemeinschaft Unvorstellbare: Russland greift die Ukraine in einem völkerrechtswidrigen Krieg an.

Die NATO unterstreicht, dass sie die Ukraine nicht militärisch unterstützen wird. Es beginnt ein Wettlauf mit der Zeit, der den unglaublichen Mut der Ukrainer zeigt – aber auch die russischen Streitkräfte vorführt. Veraltetes Material, falsche Risikoeinschätzungen und eine Überraschung spielen sich vor unser aller Augen ab: Putins Streitkräften gelingt es trotz ihrer krassen Überlegenheit nicht, die Lufthoheit über der Ukraine zu gewinnen.

Kriegsverbrecher Putin terrorisiert die Ukraine. Wer Glück hat, kann fliehen. Diese ukrainische Familie wurde von der Luxemburger Friedensorganistion „Ad pacem servandam Asbl.“ gerettet. Von links nach rechts: Claude Pantaleoni (Asbl-Präsident und Lehrer), seine Ehefrau Natalya Pantaleoni (ukrainische Historikerin und Vizepräsidentin der Asbl), das Ehepaar Denis Semianystyi (40) und Anna Semianysta (35) sowie ihre beiden Kinder und Annas Mutter Veronika Shcherbyna (57) mit der Babuschka.
Kriegsverbrecher Putin terrorisiert die Ukraine. Wer Glück hat, kann fliehen. Diese ukrainische Familie wurde von der Luxemburger Friedensorganistion „Ad pacem servandam Asbl.“ gerettet. Von links nach rechts: Claude Pantaleoni (Asbl-Präsident und Lehrer), seine Ehefrau Natalya Pantaleoni (ukrainische Historikerin und Vizepräsidentin der Asbl), das Ehepaar Denis Semianystyi (40) und Anna Semianysta (35) sowie ihre beiden Kinder und Annas Mutter Veronika Shcherbyna (57) mit der Babuschka.

tcivitareale
13. Mai 2022 - 19.27

Ich kann einfach nocht nicht nachvollziehen dass die Ukrainer sowohl die Menschen hier im Westen den Russen oder Putin die Schuld zufügen, es herrscht jetzt seit 3 monaten Krieg dort, die ukrainische faschistische Armee möchte einfach nicht aufgeben..... Und so langsam wissen wir dass die ihr eigenes Volk umbringen,es wird ja alles zensuriert wenn es um Wahrheit geht... Es geht nicht nur zm die Ukraine, mittlerweile befinden wir uns in einem 3ten Weltkrieg..... Dann wird es Zeit dass wir lernen uns gegenseitig zu helfen

Miette
16. März 2022 - 22.06

Es berührt mich, wie Mitmenschen aus jeder Gehaltsklasse im ganzen Land/ganz Europa spenden um den Kriegsflüchtlingen zu helfen. @Filet de ???, ich empfehle ihnen Tee anstatt Essig zum Frühstück??? Friedliche Nacht?

Filet de Boeuf
16. März 2022 - 10.35

Die armen Ukrainer, die haben gar nichts. Gut, dass die Luxemburger alle mit vererbten Villen gesegnet sind und die ukrainischen Familien aufnehmen können. Notfalls können sie auch im Ferienhaus wohnen.