Mit neuen Angriffen auf die Städte Tschernihiw und Mariupol hat Russland Hoffnungen auf eine Entspannung der Lage in der Ukraine zunichtegemacht. Entgegen der russischen Zusicherung vom Vortag, die Militäraktivitäten im Norden der Ukraine „radikal“ zu verringern, wurde nach ukrainischen Angaben die Stadt Tschernihiw am Mittwoch weiter beschossen. In Mariupol wurde nach ukrainischen Angaben ein Rotkreuz-Gebäude bombardiert. Auch der Kiewer Vorort Irpin stand weiter unter Beschuss.
„Im Moment kann man leider nicht feststellen, dass die Russen die Intensität der Feindseligkeiten in Richtung Kiew und Tschernihiw verringern“, sagte Wadym Denysenko, Berater des ukrainischen Innenministers. Auch der ukrainische Generalstab zeigte sich angesichts der russischen Ankündigungen vom Dienstag zu geringeren Militäraktivitäten bei Kiew und Tschernihiw sehr skeptisch. „Der sogenannte ‚Truppenabzug‘ ist wahrscheinlich eine Rotation einzelner Einheiten, die darauf abzielt, die militärische Führung der ukrainischen Streitkräfte zu täuschen“, erklärte er.
Nach Gesprächen am Dienstag in Istanbul hatten beide Seiten vor Ort von einer Annäherung gesprochen. Der Kreml in Moskau äußerte sich am Mittwoch aber deutlich anders über die Verhandlungen. „Im Moment können wir nichts sehr Vielversprechendes oder irgendeinen Durchbruch vermelden“, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. „Es gibt noch viel zu tun.“
„Ganze Nacht bombardiert“
Der Gouverneur der Region Tschernihiw meldete, die Stadt sei „die ganze Nacht bombardiert“ worden. In Tschernihiw sei zivile Infrastruktur zerstört worden und die Stadt mit ehemals 280.000 Einwohnern sei noch immer ohne Wasser und Strom, erklärte Wjatscheslaw Tschaus in den Online-Netzwerken. Nach Mariupol im Süden ist Tschernihiw die Stadt, die seit Beginn des von Russland am 24. Februar begonnenen Krieges mit am schwersten bombardiert wurde.
Doch Euro für Gas aus Russland
Deutschlands Kanzler Olaf Scholz hat nach einem Gespräch mit Kreml-Chef Wladimir Putin bekräftigt, dass die europäischen Vertragspartner die Gaslieferungen aus Russland wie in den Verträgen vorgesehen weiter in Euro oder Dollar bezahlen werden. Putin hatte demnach in dem Telefonat erläutert, dass ab dem 1. April ein Gesetz gelte, wonach die Lieferung von Gas in Rubel zu begleichen sei. Allerdings würde sich für die europäischen Vertragspartner nichts ändern: Die Zahlungen würden weiterhin ausschließlich in Euro ergehen und wie üblich an die Gazprom-Bank überwiesen, die nicht von den Sanktionen betroffen sei. Die Bank konvertiere dann das Geld in Rubel.
In Mariupol wurde nach ukrainischen Angaben ein Gebäude des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) Ziel russischer Luftangriffe. „Feindliche Flugzeuge und Artillerie schossen auf ein Gebäude, das mit einem roten Kreuz auf weißem Grund gekennzeichnet ist, was auf die Anwesenheit von Verletzten oder ziviler oder humanitärer Fracht hinweist“, schrieb Ljudmyla Denisowa, Menschenrechtsbeauftragte des ukrainischen Parlaments, im Messengerdienst Telegram.

Mariupol ist seit Wochen von jeglicher Versorgung abgeschnitten und wird von den russischen Streitkräften heftig beschossen und belagert. Die Stadt ist mittlerweile weitgehend zerstört, rund 160.000 Bewohner sollen aber weiterhin dort festsitzen.
Auch in Kiew und Umgebung waren in der Nacht mehrmals die Sirenen zu hören. „In den letzten 24 Stunden haben die Russen 30 Mal bewohnte Viertel und zivile Infrastruktur in der Region Kiew bombardiert“, sagte der Gouverneur der Region, Olexander Pawljuk.
Am stärksten betroffen sei der Vorort Irpin, der nach ukrainischen Angaben am Montagabend von den russischen Truppen „befreit“ worden war. Laut Bürgermeister Oleksandr Markuschin starben „ungefähr 200 oder 300 Menschen“. Obwohl Irpin „zu 100 Prozent“ unter ukrainischer Kontrolle sei, warnte er geflohene Bewohner vor einer Rückkehr, da die Stadt noch immer beschossen werde.
Seit Kriegsbeginn sind bereits mehr als vier Millionen Menschen aus der Ukraine geflohen, fast 6,5 Millionen sind laut UNO zudem in dem Land auf der Flucht.
UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet bezeichnete großangelegte und wahllose Angriffe Russlands in bewohnten Gebieten der Ukraine als „äußerst besorgniserregend“. Sie könnten „Kriegsverbrechen gleichkommen“, sagte Bachelet vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf. US-Präsident Joe Biden sprach mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj über „zusätzliche“ militärische Kapazitäten. Diese seien notwendig, um der ukrainischen Armee bei der „Verteidigung ihres Landes“ zu helfen, erklärte das Weiße Haus.
Der britische Premierminister Boris Johnson forderte eine Verschärfung der gegen Russland verhängten Sanktionen. Eine Lockerung könne es nur bei einem Abzug der russischen Truppen geben. Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace koordiniert am Donnerstag zum zweiten Mal seit Beginn der russischen Invasion in die Ukraine eine Geberkonferenz für Waffen- und Geldspenden an das Land. An den Beratungen sollen 30 Länder vertreten sein, wie es am Mittwochabend aus Kreisen des britischen Verteidigungsministeriums hieß. Ziel sei es, die Partnerländer über die militärischen Bedürfnisse der Ukraine zu informieren, um die internationale Reaktion so koordiniert und effektiv wie möglich zu gestalten. (AFP, dpa)
Noch mehr ausgewiesene Diplomaten
Die Slowakei weist unter Verweis auf Geheimdienstinformationen 35 russische Diplomaten aus. Das Land werde „das Personal der russischen Botschaft in Bratislava um 35 Personen reduzieren“, sagte ein Sprecher des Außenministeriums am Mittwoch. „Wir bedauern, dass die russische diplomatische Vertretung nach früheren Ausweisungen russischer Diplomaten in den vergangenen Jahren kein Interesse an einer korrekten Arbeit in der Slowakei gezeigt hat.“
Am Dienstag hatten bereits Belgien, die Niederlande, Irland und Tschechien dutzende russische Diplomaten ausgewiesen. In Belgien waren 21 betroffen, in den Niederlanden 17, vier in Irland und einer in Tschechien. Die Länder verwiesen auf Spionageaktivitäten. Moskau kündigte darauf umgehend Vergeltung an.
De Maart
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