EditorialGute und schlechte Zahlen: Häusliche Gewalt in Pandemie-Zeiten

Editorial / Gute und schlechte Zahlen: Häusliche Gewalt in Pandemie-Zeiten
Die Fälle häuslicher Gewalt haben im Corona-Jahr 2020 zugenommen, auch wenn es zu keinem exponentiellen Wachstum kam Foto: Editpress/Alain Rischard

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Gerne wird nicht über das Thema gesprochen, dabei ist es in Zeiten von Lockdown und Ausgangssperren aktueller denn je. Unter häuslicher Gewalt versteht man jegliche Form von physischer, sexueller oder psychischer Gewalt zwischen Menschen, die in einem Haushalt leben. Sie entsteht selten spontan, sondern hat einen langen Werdegang. Zu finden ist sie in allen Altersklassen, sozialen Schichten und Nationalitäten. Betroffen sind nicht nur Frauen, doch sie stellen den Großteil der Opfer. 

Vor einer Woche wurden die Statistiken aus dem Corona-Jahr 2020 vorgestellt. Dabei zeigte sich die zuständige Ministerin Taina Bofferding (LSAP) erleichtert, dass es in Luxemburg nicht zum befürchteten exponentiellen Wachstum wie beispielsweise in Frankreich gekommen sei. Alarmierend sind die Statistiken aber allemal, denn die Anzahl der Fälle nahm im Vergleich zu 2019 deutlich zu. 11 Prozent mehr Polizeieinsätze wegen häuslicher Gewalt wurden notiert. Die Zahl der Opfer stieg mit 1.697 auf ein Rekordhoch. 

Polizei und Ministerin können der hohen Anzahl der Einsätze aber auch „Positives“ abgewinnen, sofern man in diesem Kontext überhaupt von etwas Positivem reden darf. Schließlich ist jeder Fall ein Fall zu viel, wie auch Taina Bofferding stets betont. Die Zahlen könnten aber ein Hinweis darauf sein, dass häusliche Gewalt nicht mehr einfach so hingenommen werde, also weniger tabuisiert werde als zuvor. Und dass die Nachbarn wegen des Lockdowns besser mitbekommen hätten, was sich nebenan abspielt, und so verstärkt die Polizei eingeschaltet hätten. Auch das wäre gut, schließlich ist jede Form von Gewalt gegenüber anderen ein Verbrechen und sicher keine Privatsache. Also nichts, vor dem man seine Augen verschließen darf.

Erst recht nicht, wenn Minderjährige beteiligt sind. 164 der sogenannten Wegweisungen („expulsions“), nach den Polizeieinsätzen der zweite wichtige Indikator bei häuslicher Gewalt, hatten einen Zusammenhang mit Minderjährigen. Wer seinen Partner schlägt, der neigt auch dazu, an die Kinder Hand anzulegen. Auch das zeigen die Zahlen, wobei es für Minderjährige schon schlimm genug ist, Zeuge der Gewalt zu sein.

Man muss davon ausgehen, dass die Dunkelziffer groß ist. Denn häusliche Gewalt kann schnell zum Teufelskreis werden. Opfer sehen Gewalt als normal, sie empfinden Scham, sie haben Angst vor noch mehr Repressalien oder davor, nicht ernst genommen zu werden, sie sind finanziell und emotional vom Täter abhängig, sie fühlen sich schuldig. Das sind nur einige Gründe von Betroffenen, sich nicht bei den Behörden oder einer der zahlreichen Anlaufstellen zu melden. Umso wichtiger ist, dass es dann das Umfeld tut.   

Der Anstieg der häuslichen Gewalt während der Pandemie lässt aber auch erahnen, dass Dinge hierzulande grundlegend schieflaufen. Da ist in erster Linie die Wohnraumknappheit, die für beengte Wohnverhältnisse sorgt. Dazu soziale Ungerechtigkeiten, die die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergehen lassen. Und da ist die nicht gelebte Gleichstellung der Geschlechter, die als Ursache herhalten kann. Letztendlich sind bei Polizeieinsätzen wegen häuslicher Gewalt zwei Drittel der Opfer Frauen. Bei der Statistik der Wegweisungen sind es sogar 90 Prozent.