Dienstag4. November 2025

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BiografieGramsci – ein Klassiker der politischen Philosophie

Biografie / Gramsci – ein Klassiker der politischen Philosophie
Denker, Poet, Politiker und posthum ein Popstar – Antonio „Nino“ Gramsci auf einer Wand in Rom Foto: Riccardo Cuppini/Flickr

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Antonio Gramsci ist aktueller denn je, insbesondere seine Strategien gegen den aufkommenden Faschismus. Endlich gibt es eine neue Ausgabe von Giuseppe Fioris lange Zeit vergriffenem Buch über das Leben und Wirken des Philosophen, Politikers und Mitgründers der Kommunistischen Partei Italiens.

Etwa anderthalb Stunden sind wir mit dem Auto unterwegs durch Sardinien, als wir in Antonio Gramscis Heimat ankommen. Wir besuchen seinen Geburtsort Ales im Westen der Insel am Fuße des erloschenen Vulkans Monte Arci in der Provinz Oristano, dann das Dorf Ghilarza, wo er aufwuchs und die Grundschule besuchte. Schließlich fahren wir wieder zurück nach Cagliari, wo er das Lyzeum besuchte. Wir sind durch das sardinische Landesinnere gefahren, vorbei an den berühmten Nuraghen, jenen architektonischen Zeugnissen einer prähistorischen Hochkultur. Eine ähnliche Reise unternahm Ende der 70er Jahre Christoph Nix, unter anderem Schriftsteller, Regisseur und Wissenschaftler, der Herausgeber der kürzlich erschienenen neuen Ausgabe der deutschen Übersetzung von Giuseppe Fioris Buch „Das Leben des Antonio Gramsci“. Und er hat einen politischen Reiseführer durch Sardinien in Form eines Tagebuchs verfasst: „Gramscis Geist“.

Mehr als 30 Jahre ist es her, seit ich seine „Gefängnishefte“ gelesen habe – als sich kaum noch jemand für marxistische Denker interessierte. Es war nach dem Ende des Kalten Krieges, Demokratie wurde mit freiem Markt gleichgesetzt. Es war auch jene Zeit zu Beginn der 90er Jahre, in denen mir Sabine Kebirs Buch über Gramscis Begriff der Zivilgesellschaft und der Kultur die Augen öffnete und der 1937 verstorbene, aus Sardinien stammende Philosoph zum mehrfachen Male wiederentdeckt worden war. Der italienische Marxist war so etwas wie ein letzter Hoffnungsträger für viele Linke geworden.

Vor allem sein Konzept der „kulturellen Hegemonie“ fand Verbreitung. „Es kann und es muss eine ‚politische Hegemonie‘ auch vor dem Regierungsantritt geben, und man darf nicht nur auf die durch ihn verliehene Macht und die materielle Stärke zählen, um die politische Führung oder Hegemonie auszuüben.“ Gramsci schrieb dies in seinen zwischen 1929 und 1935 verfassten „Gefängnisheften“. Es war eine Absage an das klassische marxistische Schema von einer ökonomischen Basis und einem ideologischen Überbau. Stattdessen müsse die Hegemonie schon in einer vorrevolutionären Phase auf dem Gebiet verschiedener gesellschaftlicher Teilbereiche errungen werden, unter anderem dem der kulturellen Hegemonie.

Nach dem Krieg waren zunächst Gramscis Briefe erschienen, „das bewegende Zeugnis eines Menschen, der standhaft seine Würde gegen den Faschismus verteidigt hat und dessen Menschenkenntnis, Erzählkunst und analytischer Verstand die Leserinnen und Leser berühren“, schreiben Thomas Barfuss und Peter Jehle, die mehrere Bücher von und über Gramsci herausgegeben haben, unter anderem eine Einführung in das Werk des Theoretikers. Gramscis berühmte „Gefängnishefte“, jene 2.848 Seiten, die nach Moskau geschmuggelt wurden und die der Generalsekretär der KPI, Palmiro Togliatti, bearbeitete und nach dem Krieg gekürzt veröffentlichte. Die für die Parteiführung unbequemen Briefe und Passagen waren weggelassen worden.

Die erste vollständige italienische Edition der „Gefängnishefte“ erschien 1975, als die Hochkonjunktur des marxistischen Denkens abgeflaut war. Gramsci war plötzlich wieder in aller Munde, ebenso sein Begriff der „Hegemonie“. Michel Foucault stellte fest, dass Gramsci ein Autor sei, der öfter zitiert als wirklich gelesen werde, oder wie Kurt Tucholsky „Ulysses“ von James Joyce als „Fleischextrakt“ beschrieb: „Man kann ich nicht essen, aber es werden noch viele Suppen damit zubereitet werden.“ Später wurde Gramsci in den Cultural Studies und Subaltern Studies dafür verehrt, die Geschichte von den Rändern her zu schreiben und die Subalternen ins Zentrum zu rücken.

Die Umstände, unter denen Gramsci in Turin sein Studium der Philosophie, Sprach- und Literaturwissenschaft aufnahm, waren schwierig. Das vierte von sieben Kindern einer verarmten Beamtenfamilie, 1891 geboren, hatte früh unter der Verkrümmung seines Rückens zu leiden, vermutlich eine Folge von Knochentuberkulose, verstärkt durch einen Sturz, als ihn ein Kindermädchen hatte fallen lassen. Seine Brüder griffen zu brutalen Methoden und versuchten, ihn zu strecken. Doch „Nino“ wurde nicht größer als 1,50 Meter.

Körperliches Leiden

Gramsci kämpfte sich durch. In der Schule war er gut, aber nicht überragend gewesen. Seine Studien waren von gesundheitlichen und finanziellen Problemen überschattet. Gute Nahrung und Medikamente konnte er sich nicht leisten. Durch eine Entzündung der Wirbelsäule litt er unter großen Schmerzen. Trotzdem nahm er in Turin während des Ersten Weltkriegs an Protesten für den Frieden teil, wurde Journalist und schrieb für verschiedene linke Zeitungen. Im Februar 1917 erschien in der einmaligen Ausgabe von La città futura ein Text von ihm unter dem Titel „Leben heißt Partei ergreifen“, was zu einem Motto für Gramscis Leben und Arbeit wurde. Gleichgültigkeit sei ein mächtiger Faktor in der Geschichte, so Gramsci. „Deswegen hasse ich die, die nicht Partei ergreifen, die gleichgültig sind.“

Der Journalist Giuseppe Fiori, ebenfalls von Sardinien stammend, unter anderem tätig für L’Union Sarde, Il Messaggero und L’Unità, von 1979 bis 1992 Senator der Sinistra Indipendente, der Unabhängigen Linken, schildert in „Das Leben des Antonio Gramsci“ nicht nur einfühlsam das Leben und Wirken Gramscis, sondern entwirft ein politisches Panorama von Italien zu dessen Lebenszeit, geprägt vom Aufkommen der Faschisten, vom Leben in den sardischen Dörfern bis hin zur Industrialisierung der Insel, aber auch über die Kämpfe der Industriearbeiter in Turin.

Gramsci wurde im Kreis junger intellektueller Gleichgesinnter politisch aktiv. Über die Gruppe von Sozialisten fand er Kontakt zu den Industriearbeitern. In jener Zeit schrieb er sowohl Aufsätze über Karl Marx als auch Satiren und Essays, etwa über das Theater von Luigi Pirandello. Gramsci schrieb Gedichte, besuchte Theater und Oper, wurde Parlamentsabgeordneter und 1921 in Livorno Mitgründer der Kommunistischen Partei. Fioris lange vergriffenes Buch, das 1966 zuerst in Rom publiziert wurde, folgt Gramscis Lebensweg. Es zeigt auch, wie die Uneinigkeit der Demokraten die Faschisten stärkte. Gramsci trat Benito Mussolini entschlossen entgegen. Er bezeichnete den Faschistenführer als „Prototyp des wildgewordenen Kleinbürgers“, der wiederum in ihm seinen wichtigsten Gegner sah, „zweifellos ein fähiger Kopf“. Gramsci lehnte den „politischen Determinismus“ ab und plädierte für den freien Willen jedes einzelnen Menschen. Die Faschisten übernahmen im Oktober 1922 schließlich die Macht und ließen viele Kommunisten und Sozialisten verhaften.

Geistige Freiheit

Gramsci war nach anderthalb Jahren bei der Kommunistischen Internationale in Moskau nach Italien zurückgekehrt. 1925 kam es im Parlament zur offenen Konfrontation mit Mussolini. Während dieser mit lautem Pathos schwadronierte, sprach Gramsci leise und mit dünner Stimme: „Von dieser Bühne aus wollen wir dem italienischen Proletariat und den Bauernmassen sagen: Die revolutionären Kräfte Italiens lassen sich nicht zerschlagen und die Faschisten werden ihre finsteren Pläne nie verwirklichen können.“ Die beiden sollen einander später im Restaurant des Parlaments begegnet sein. Mussolini sei auf Gramsci zugegangen und habe die Hand ausgestreckt. Doch dieser ignorierte den Faschistenführer und trank weiter seinen Kaffee.

Gramscis Grab auf dem „Cimitero acattolico“ in Rom
Gramscis Grab auf dem „Cimitero acattolico“ in Rom Foto: Sebastian Baryli/Flickr

In Moskau hatte Gramsci 1922 die russische Geigerin Eugenia Schucht kennengelernt sowie deren Schwester Julia Schucht, die ebenfalls Violinistin war. „Nino“ und Julia heirateten, aus der Ehe stammten zwei Söhne, Delio und Giuliano, von denen Gramsci den jüngeren, 1926 geboren, wegen seines Gefängnisaufenthaltes nie zu sehen bekam. Gramsci wurde im November 1926 in seiner Wohnung in Rom verhaftet. Er kam in strenge Einzelhaft und wurde auf die Insel Ustica verbannt. Ein Sondergericht in Rom verurteilte ihn 1928 zu 20 Jahren, vier Monaten und fünf Tagen Haft, um zu verhindern, so der Staatsanwalt, „dass dieses Gehirn funktioniert“. Gramsci kam in ein Sondergefängnis nach Bari. Julia war in Moskau geblieben – ihre andere Schwester, die in Rom lebende Tatjana (Tanja) Schucht, wurde während Gramscis Jahre im Gefängnis dessen einzige Verbindung zur Außenwelt, also zu seiner Frau. Tanja Schucht besuchte ihn bis zu seinem Tod 1937 ständig und führte einen ausführlichen Briefwechsel mit ihm.

Seine Gefängnishefte sind nicht nur ein Bekenntnis zu einer Alternative zum stalinistischen Marxismus-Leninismus, sondern auch eine Art Leitfaden dafür, wie der Faschismus zu besiegen sei, mit einer „breiten antifaschistischen Volksbewegung“, während für die Überwindung des kapitalistischen Systems eine „bürgerlich-demokratische Lösung“ nötig sei. Fioris Buch ist ein sensibles und umfassendes Portrait eines der wichtigsten italienischen Autoren und politischen Denker des 20. Jahrhunderts. Die Biografie fasziniert nach wie vor, obwohl die Forschung Fiori gerade im politischen Teil, etwa über die Gründung der KPI, aber auch bezüglich der Gefängnisjahre, neu ausgeleuchtet hat. Gramscis Orientierung „auf den Vorrang der Konsensgewinnung vor jeder auf Gewalt und Bürokratie basierten Machtausübung“, wie Wolfgang Fritz Haug im Nachwort schreibt, hat als ein Hauptwerk der politischen Philosophie nichts an Wirkkraft verloren.

Giuseppe Fiori: Das Leben des Antonio Gramsci. Hrsg. von Christoph Nix. Mit einem Nachwort von Wolfgang Fritz Haug. Aus dem Italienischen von Renate Heimbucher und Susanne Schoop. Hamburg 2024. 304 Seiten. 20 Euro.

Hottua Robert
24. März 2025 - 16.10

Ick kann im Internet keine Hinweise über das Verhältnis von Herrn GRAMSCI zum italienischen faschistischen Rassismus finden. Angesichts der zahlreichen italienischen ImmigrantInnen in Luxemburg und der Position des "Luxemburger Wortes" ein für Luxemburg wichtiges Thema. ▪Manifest der rassistischen Wissenschaftler (Wikipedia, 16.10.2024) Das "Manifest der rassistischen Wissenschaftler" (ital.: "Manifesto degli scienzati razzisti" oder kurz "Manifesto della razza") ist ein im Auftrag MUSSOLINIs vom italienischen Anthropologen Guido LANDRA und weiteren Wissenschaftlern erarbeitetes pseudowissenschaftliches Grundlagenpapier, das am 14. Juli 1938 anonym im "Il Giornale d’Italia" veröffentlicht wurde und als Gründungsdokument des faschistischen Staatsantisemitismus angesehen wird. Im Februar 1938 beauftragte MUSSOLINI den jungen antisemitischen und faschistischen Anthropologen Guido LANDRA (1913-1980), mit weiteren Wissenschaftlern die Grundlagen der faschistischen Rassenpolitik zu formulieren. Unter der Mitwirkung und Unterstützung weiterer neun Wissenschaftler entstand ein Grundsatzpapier in der Form eines Dekalogs, das in wesentlichen Punkten MUSSOLINIs Handschrift aufwies. Es wurde am 14. Juli 1938 anonym im "Il Giornale d’Italia" unter dem Titel "Der Faschismus und die Probleme der Rasse" veröffentlicht und am 25. Juli erschien eine Pressemitteilung der "Nationalen Faschistischen Partei" (PNF) in der zehn Wissenschaftler als Autoren und Unterstützer und das italienische "Ministerium für Volkskultur" als Sponsor benannt wurden. Als Autoren und Unterstützer wurden die Wissenschaftler Lino BUSINCO, Lidio CIPRIANI, Leone FRANZI, Guido LANDRA, Marcello RICCI, Artuso DONAGGIO, Nicola PENDE, Franco SAVORGNAN, Sabato VISCO und Eduardo ZAVATTARI genannt. Besondere Bedeutung kommt dem Vorgang in drei Punkten zu: (1) Die Ausarbeitung und Veröffentlichung des Manifests fiel mit der Vorbereitung der italienischen Rassengesetze zusammen. (2) Im Manifest wurde ein völkisch biologistisches Prinzip zum Leitgedanken des faschistischen Rassismus und Antisemitismus erhoben. (3) Durch das Manifest wurden die faschistischen Positionen in der Rassenfrage mit denen des Nationalsozialismus kompatibel gemacht. Der "Dekalog" ging von der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Rassen aus, die auf biologistischen Unterscheidungskriterien beruhten. Es existiere eine "razza italiana" arischen Ursprungs, die über Jahrtausende "rein" geblieben sei und sich nicht mit Rassen außereuropäischen Ursprungs vermischen solle. Die jüdische Rasse sei nicht europäischen Ursprungs und unterscheide sich grundlegend von der italienischen. Der Schweizer Historiker Aram MATTIOLO bezeichnete das "Machwerk" als Gründungsdokument des faschistischen Staatsantisemitismus. Der italienische Historiker und MUSSOLINI-Biograf Renzo De FELICE sah die Unterzeichnung des Dokuments durch die Wissenschaftler vom wissenschaftlichen, politischen und moralischen Standpunkt gesehen als eine der schlimmsten und schäbigsten Episoden der faschistischen Zeit an. (…) MfG, Robert Hottua