Flashback 2020Genug entschuldigt: Rassismus-Debatte rüttelt am nationalen Selbstverständnis

Flashback 2020 / Genug entschuldigt: Rassismus-Debatte rüttelt am nationalen Selbstverständnis
Die Luxemburgerin Jana Degrott ist Tochter eines gemischten Paares und kennt die Unsicherheiten, die junge Schwarze oft empfinden Foto: Editpress/Isabella Finzi

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Anfang 2020 war noch alles anders. Wie sehr hat das vergangenen Jahr die Welt und Luxemburg verändert? Bis Silvester präsentiert das Tageblatt die interessantesten und bewegendsten Artikel des Jahres der Corona-Pandemie. Dieser Artikel wurde zuerst am 18. Juni veröffentlicht.

Seit Wochen prägt die Bewegung „Black Lives Matter“ erneut die internationale Rassismus-Debatte. Was in den USA als Reaktion auf systemischen Rassismus, alltägliche Diskriminierung und Polizeigewalt gegen Schwarze angefangen hat, führt inzwischen in ganz Europa zu Demonstrationen. Auch in Luxemburg wurde vor kurzem protestiert: Rassismus gegenüber Schwarzen gehört hierzulande keineswegs der Vergangenheit an. Allerdings ist Luxemburgs Rassismus-Debatte im Vergleich zum Ausland noch diffus, unstrukturiert und weit davon entfernt, sich mit der systemischen Ebene des Problems zu befassen. Selbst wer in Luxemburg als Schwarzer Alltagsrassismus thematisiert, muss sich auf eine Welle der Empörung gefasst machen. Jüngstes Beispiel: Ein Teil der Reaktionen auf die Tageblatt-Serie „Rassismus in Luxemburg“.

An Muttertag hat das Tageblatt eine Artikel-Serie ins Leben gerufen, um Rassismus-Erfahrungen von schwarzen Menschen in Luxemburg zu thematisieren. Denn: Anfeindungen in der Schule, rassistische Kommentare, subtile Diskriminierung, schlechtere Jobchancen – wer eine dunkle Haut hat, riskiert auch hierzulande ausgegrenzt zu werden. Jahrhundertelange Unterdrückung durch Weiße ist auch an Luxemburg nicht spurlos vorbeigegangen.

Die Zeitzeugen der Tageblatt-Serie erzählen, was sie erlebt haben: Sie können ungefiltert von ihren persönlichen Erfahrungen mit Rassismus berichten. Der erste Text der Serie ist in der Samstagausgabe vom 13. Juni erschienen. Mit einem Perspektivwechsel wird aus Sicht der Mütter der von ihren Kindern erlebte Rassismus geschildert. Der zweite Text ist am 15. Juni veröffentlicht worden und fokussiert das Erlebte aus der Perspektive der Betroffenen selbst. Anstelle von Mitgefühl wurde den Interviewten jedoch teilweise Unverständnis und Wut entgegengebracht. Für die Betroffenen eine Situation, die Angst macht, gar Panik auslöst.

Keine Frage der Integration

Das Resultat des Drucks, der von außen ausgeübt wurde, war in einem Fall nicht weniger als eine offizielle Entschuldigung der Zeitzeugen. Für Jana Degrott, DP-Politikerin und selbst Tochter eines gemischten Paares, ist das, was sich seither in Luxemburgs Rassismus-Debatte zusammenbraut, wie ein Schlag ins Gesicht: „Es ist das Resultat jahrelangen Diskreditierens. Es wird einem eingetrichtert, dass das, was man fühlt, nicht richtig ist und man doch dankbar sein soll, dass man hierzulande aufgenommen wurde.“ Dass ein gebürtiger Luxemburger öffentlich betonen muss, dass er sich in der eigenen Heimat integriert fühlt, ist für Degrott inakzeptabel. „Die Menschen glauben, dass wir als Schwarze einen Integrationsprozess hinter uns haben, aber das stimmt nicht. Es gibt keine richtigen, falschen oder halben Luxemburger – wenn Luxemburger als Nationalität in deinem Pass steht, dann bist du Luxemburger, Ende der Geschichte.“

Auch Aldina Ganeto des „Finkapé“-Netzwerks für afrikanisch-stämmige Bürger („afro-descendants“) ist über die Reaktionen auf die Artikelserie entsetzt: „Ich bin schockiert, dass den eigentlichen Opfern von Rassismus so viel Druck gemacht wird, dass sie sich schuldig fühlen und das Gefühl haben, sich bei jemandem entschuldigen zu müssen. Das darf doch einfach nicht sein.“ Seit Jahren kämpft Ganeto für Gleichberechtigung in Luxemburgs Gesellschaft. Dass Menschen, die sich trauen, über Erlebtes zu sprechen, solchen Gegenwind erfahren, trifft die Aktivistin persönlich. „Ich finde keine Worte dafür. Man wird hingestellt, als dürfe man sich hier nicht mehr wohlfühlen, wenn man den Mund aufmacht. Was die Betroffenen erlebt haben, zeigt, was Rassismus mit einem macht: Man fühlt sich ausgeliefert, hilflos und es wird einem gesagt, man habe nicht das Recht, darüber zu reden, was einem widerfahren ist.“

Die eigene Geschichte erzählen

Kommentare im Internet, Anrufe an jene, die ihre Rassismus-Erfahrungen schildern, Anfeindungen gegenüber Journalisten und Medien, die über das Tabuthema berichten – all dies sind Hinweise dafür, dass fest verankerter Rassismus auch in Luxemburg existiert, jedoch immer noch totgeschwiegen wird. „Es ist dramatisch, festzustellen, wie die Gesellschaft in solchen Situationen reagiert“, sagt Ganeto. „Anstelle sich selbst und sein eigenes Verhalten zu hinterfragen, greifen die Leute diejenigen an, die genau durch diese Einstellung verletzt wurden. Es zeigt einfach, dass Luxemburg nicht bereit ist, zuzugeben, was unsere Realität hier als Schwarze ist.“ In ihren Augen sind sich die meisten nicht bewusst, was solche Reaktionen bei den Betroffenen anrichten: „Du fühlst dich irgendwann nicht mehr anerkannt und versuchst jeden Tag zu vergessen, wer du bist, wirst aber immer wieder daran erinnert und darfst dann nicht mal darüber reden.“

Als Gründungsmitglied von „Finkapé“ setzt sich Aldina Ganeto seit Jahren für die Rechte von „afro-descendants“ ein
Als Gründungsmitglied von „Finkapé“ setzt sich Aldina Ganeto seit Jahren für die Rechte von „afro-descendants“ ein Foto: privat

Dass es für Opfer von Rassismus nicht leicht ist, über bestimmte Situationen zu reden und viele dies vermeiden, ist auch Degrott durch die Reaktionen auf die Artikelserie bewusst geworden: „Für mich war das wie ein Erwachen. Mir ist klar geworden, dass ich mich in meinem politischen Mandat nie wirklich getraut habe, etwas zu sagen. Ich habe stets von anderen Schwarzen gesprochen. Aber es wird Zeit, dass auch ich meine persönliche Geschichte erzähle.“  Die junge Politikerin nimmt die Ignoranz in Luxemburg seit längerem zunehmend wahr: Während ihre anderen Hilfsorganisationen früher viel Zuspruch erhielten, ist die Unterstützung der Luxemburger für ihr aktuelles Projekt über Ausgrenzung eher zaghaft. „Sie fühlen sich nicht angesprochen, und genau das ist das Problem.“

„Muss mich nicht dafür entschuldigen“

Die Ausrede, im Großherzogtum würden doch so viele Menschen unterschiedlicher Herkunft sowie verschiedene Nationalitäten friedlich zusammenleben und Rassisten wären Einzelfälle, will Degrott nicht länger hinnehmen: „Man soll sich nicht damit zufriedengeben, dass es halt intolerante Menschen gibt. Solange auch nur eine Person eine andere aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert, muss darüber gesprochen werden.“ Sie selbst kenne das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, man solle doch bloß nicht übertreiben. Aus diesem Grund will sich Degrott für diejenigen einsetzen, die keine eigene Stimme haben oder sich aber davor fürchten, in die Öffentlichkeit zu treten: „Que cela plaise ou non.“

Tabus brechen, andere unterstützen, gemeinsam für die schwarze Gemeinschaft einstehen – dafür kämpfen Menschen wie Ganeto und Degrott tagtäglich. Laut Ganeto darf man nicht schweigen, auch wenn es viel Überwindung kostet: „Es ist nicht einfach, darüber zu sprechen, denn damit verletzt man sich jedes Mal wieder selbst. Aber reden ist der einzige Weg und unsere Botschaft lautet ganz klar: Ich muss mich nicht dafür entschuldigen, dass ich Rassismus erlebt habe. Das ist nicht meine Schuld.“

raymond
30. Dezember 2020 - 15.20

Nach e puer Wochen, da brennen erëm am ganze Land Buergen déi komescherweis ausgesi wéi e Kräiz, eis schwaarz Matbierger wänzele sech um Buedem vu Begeeschterung iwwer dëse KKK-Spektakel.

trotinette josy
30. Dezember 2020 - 13.28

Leider wird es immer intolerante Menschen geben. Die Angst vor Fremdem und Änderungen führt in vielen Fällen zu Aggressivität. In einer grossen Zahl von Gemeinden leben über 40% " Ausländer " in nicht wenigen Kommunen sind die Einheimischen in der Minderzahl. Auf den ersten Blick mögen diese Zahlen beängstend wirken, wenn man den Verstand einsetzt und überlegt, wird man feststellen, dass diese Bevölkerungsgruppe niemandem schaden und dass wir ohne sie nicht leben könnten. Sie sind eine Bereicherung , keine Bedrohung. Die Ureinwohner Luxemburgs haben keine Vorrechte, wieso auch. Ausländerfeindlichkeit und Rassismus sind einfach doof.

cremona
29. Dezember 2020 - 14.10

Black Lives Matter, jo e puer Leit bréngen souguer nach Leit mat Schongwichs am Gesiicht fir de 6. Dezember mat an d'Schoul, trotz Trennung vu Kierch a Staat.