Anfang 2020 war noch alles anders. Wie sehr hat das vergangenen Jahr die Welt und Luxemburg verändert? Bis Silvester präsentiert das Tageblatt die interessantesten und bewegendsten Artikel des Jahres der Corona-Pandemie. Dieser Artikel wurde zuerst am 8. Oktober veröffentlicht.
Viel Raum für Interpretationen lässt die Illustration nicht: Zu sehen ist ein Mann in Hemd, Schlips und heruntergelassener Hose, der rechts auf weibliche Kleidungsstücke deutet, während er sich mit der linken Hand selbst befriedigt. Hinter dem Mann befindet sich ein Schild mit den Buchstaben LCD, daneben prangt das Wort „Ooflenkung“. Die drei Buchstaben stehen fürs „Lycée classique de Diekirch“, während „Ooflenkung“ auf die Kontroverse um den neuen Dresscode der Schule anspielt. Ein Dresscode, der zur „Rentrée“ Mitte September nicht nur im Diekircher Lyzeum hohe Wellen geschlagen hat. Im ganzen Land befassten sich plötzlich die Menschen mit den neuen Kleiderbestimmungen.
Über „mittelalterliche Sitten im LCD“ empörten sich die Kritiker, über „schockierende Zustände“ an einer Schule, die sich nach außen „progressiv und modern“ gebe. Der neue „Code vestimentaire“ fördere etwa die „systematische Unterdrückung junger Frauen“, die „Sexualisierung des weiblichen Körpers“, so der Vorwurf. Vor allem aber richte er sich an Schülerinnen, die aufgrund ihrer Kleidung Gefahr liefen, vom männlichen Teil der Schulgemeinde sexualisiert zu werden.
Der Aufschrei war entsprechend groß: Mehr als 1.100 Personen unterzeichneten in der Folge die Online-Petition einer Ex-Schülerin gegen den „misogynen Dresscode“. Dass aber verschiedene Punkte bis dahin falsch dargestellt wurden und der Dresscode Bestimmungen enthielt, wie sie an anderen Lyzeen bereits längst an der Tagesordnung sind, schien in der ganzen Aufregung etwas unterzugehen.
Somit trug auch die öffentliche Erklärung von LCD-Direktor Marcel Kramer, vor allem junge Mädchen bräuchten solche Regeln, da sie sich nicht immer der Wirkung ihres Kleidungsstils beim Gegenüber bewusst seien, kaum zur Beruhigung der Lage bei.
Kein persönlicher Angriff
Genau auf diese Aussage spielt die Karikatur von Ben Kugener an. Beim 19-jährigen Künstler handelt es sich um den Bruder jener Ex-Schülerin, die mit ihrem Beitrag in den sozialen Medien die ganze Kontroverse überhaupt erst ausgelöst hatte. Sie war es auch, die zur Unterschriftensammlung aufgerufen hatte. Eine Aktion, die ihr eigener Bruder – ebenfalls ein LCD-Alumnus – wohl mit den eigenen Talenten zu unterstützen versuchte.
„Andere Menschen äußern Unverständnis und Protest in langen Texten. Ich habe mich eben für eine Karikatur entschieden“, erklärt der Urheber im Gespräch mit dem Tageblatt. Ein persönlicher Angriff auf eine bestimmte Person sei jedoch nicht seine Absicht gewesen: „Ich wollte nur die aktuelle Kontroverse am LCD mit einer übertriebenen, witzigen, ja vulgären Zeichnung kritisch beleuchten“, so der 19-Jährige. Namen habe er deshalb bewusst weggelassen.
Bei der Karikatur handele es sich um eine visuelle Kommunikationsform, die eine bestimmte Botschaft mithilfe übertriebener Zeichnungen zu vermitteln suche. „Übertrieben“ sei hier der Schlüsselbegriff: „Die in der Zeichnung absurd dargestellte Situation sollte eigentlich nur Aufmerksamkeit auf einen Konflikt lenken, der in den letzten Wochen um den ,Code vestimentaire‘ entstanden ist“, so der junge Mann.

Dass sich LCD-Direktor Marcel Kramer in der Karikatur wiederzuerkennen glaubt, kann Kugener nicht nachvollziehen. Doch wolle er sich nicht zu sehr aus dem Fenster lehnen, da Kramer inzwischen Anzeige gegen ihn erstattet habe. „Obschon es sich bei der Person in der Karikatur nicht um den Direktor handelt“, betont Kugener mit Nachdruck. „Sie soll lediglich einen fiktiven Lehrer darstellen, mit Charakteristiken, wie man sie auch aus anderen Zeichnungen kennt.“ LCD-Direktor Marcel Kramer soll indessen davon überzeugt sein, dass es sich in der besagten Zeichnung um eine Darstellung seiner selbst handelt.
„Grenzen wurden überschritten“
Öffentlich wolle er sich nicht zu der ganzen Kontroverse äußern, so Kramer auf Nachfrage des Tageblatt. Nur so viel: „Es handelt sich hierbei um Interna, die nicht in der Öffentlichkeit ausgebreitet werden sollen. Wir werden das intern klären.“
Tageblatt-Informationen zufolge wurde inzwischen aber die Polizei in Diekirch mit der Anzeige gegen den Künstler befasst. Denn: Der LCD-Direktor fühlt sich persönlich von der Karikatur verunglimpft. Seiner Auffassung nach wird er als Lüstling dargestellt, der minderjährigen Schülern nachstelle, berichten gleich mehrere Lehrer übereinstimmend. Die Illustration stelle das gesamte männliche Lehrpersonal unter Generalverdacht. Mit dem Vorwurf der Pädophilie seien die Grenzen deutlich überschritten worden.
Somit wird sich der junge Künstler demnächst vor Ermittlern verantworten. „Eigentlich dachte ich, dass die Karikatur unter freie Meinungsäußerung fällt. Deshalb hatte ich nicht mit einer Anzeige gerechnet“, meint Kugener etwas perplex. Rückendeckung erhält der junge Mann von Carlo Schneider: „Eigentlich ist diese Illustration nicht schlimmer als die Zeichnungen von Charlie Hebdo“, meint der bekannte Luxemburger Karikaturist. Sie sei gut gezeichnet und bringe das Thema auf den Punkt.
„Zugegeben, sie ist relativ scharf. Dieses Recht aber muss sich die Satire nehmen können!“, fordert der in der Schweiz lebende Zeichner. Die Sache habe nur einen Haken: „Wird eine gewisse Person dargestellt, könnte die Zeichnung durchaus als Beleidigung und Beschuldigung aufgenommen werden“, so Schneider. Dennoch bezweifelt der Luxemburger Karikaturist, dass der junge Künstler etwas zu befürchten hat. „Ich bin überzeugt, dass eine Anzeige spätestens vor Gericht im Sinne der Satire abgewiesen wird“, schlussfolgert Schneider.
Ähnlich sieht es auch Gilbert Pregno: Die Karikatur, so übertrieben sie auch sei, müsse satirisch betrachtet werden, betont der in Ethikfragen versierte Psychologe. „Satire hat immer ein Potenzial für Veränderung. Allerdings muss man auch ganz klar sagen, dass Satire verletzen kann!“ Genau das sei in dieser Angelegenheit der Fall. „Und das macht die Sache so problematisch“, so Pregno.
Dennoch müsse man dem Umstand Rechnung tragen, dass es sich hier um junge Menschen handelt. „Schüler, die sich auch noch getraut haben, etwas infrage zu stellen, und die bereit sind, für ihre Ideale einzustehen“, betont der angesehene Psychologe. Dennoch müsse die Kontroverse nun entschärft werden. „Damit wieder Ruhe einkehrt und die Parteien sich zusammensetzen können.“
„Ein optimaler Sündenbock“
Ben Kugener wurde nicht als Einziger wegen der Karikatur zur Rechenschaft gezogen: Eine Schülerin der 2e wurde zunächst fünf Tage vom Unterricht suspendiert, weil sie die Karikatur in den sozialen Netzwerken geteilt hatte. Mit ihrem Beitrag auf Instagram habe die 18-Jährige gegen die guten Sitten und damit auch das Schulgesetz verstoßen, so der Vorwurf. Davon will die Jugendliche aber nichts wissen: „Ich stehe zu meinem Beitrag. Eine Karikatur soll provozieren, um Menschen zu erreichen“, so die 18-Jährige.
Nun ist die junge Frau auch nicht die einzige Schülerin, die von der Karikatur wusste. Die Illustration sei tagelang unter Schülern umhergereicht worden, wenn auch nur unter der Hand, bestätigen mehrere Lehrer. Die 18-Jährige ist sich hingegen sicher, dass die Zeichnung auch öffentlich geteilt wurde: „Allein in meiner Klasse wurde die Karikatur von mindestens 90 Prozent der Schüler geteilt“, betont die Betroffene. „Allerdings wurde nur ich ausgesondert und bestraft. Und das obschon ich die Karikatur sofort wieder gelöscht habe.“
Es sind zum Teil schwere Vorwürfe, die die Schülerin und ihr Vater an die Adresse des Diekircher Lyzeums erheben. In seiner Wut und Aufregung habe LCD-Direktor Marcel Kramer unbedingt einen Schuldigen ausmachen wollen: „Dabei hat er sich auf meine Tochter eingeschossen“, unterstreicht der Vater der 18-Jährigen. Dabei sei seine Tochter nur eine von vielen Jugendlichen gewesen, die besagte Karikatur erhalten und in den sozialen Netzwerken geteilt haben. „Nur sie aber wurde ausgesondert“, so der Betroffene weiter.

In seiner Tochter habe der LCD-Direktor schließlich den optimalen Sündenbock gefunden. „Sie ist sehr beliebt in der Schule und äußerst engagiert. Sie hat viele Freunde und viele Anhänger in den sozialen Netzwerken. An ihr wollte die Schule ein Exempel statuieren“, fährt der Vater fort.
Neben Sinn und Härte der Strafe scheint ihm vor allem die ganze Art und Weise sauer aufzustoßen, mit welcher die Direktion seine Tochter zu bestrafen versuchte. Die 18-Jährige sei quasi über Nacht verurteilt worden, ohne dass sie sich hätte zur Wehr setzen können. Sie habe sich nicht vor einem unabhängigen Gremium erklären dürfen. Im Gegenteil: Sie sei nur vom Direktor selbst auf die Karikatur angesprochen worden.
„Anschließend wurde sie Ende vergangener Woche vor vollendete Taten gestellt“, erklärt der Vater. Zwar hatte die Schülerin zu diesem Zeitpunkt noch das Recht, Einspruch gegen die Entscheidung einzulegen. „Doch wie sollte das zeitlich hinhauen? Wir mussten dem Bildungsministerium das Schreiben am Freitag per E-Mail übermitteln.“
Das Bildungsministerium vermittelt
Somit blieb der 18-Jährigen nichts anderes übrig, als am Montagmorgen ihre Strafe anzutreten – in Erwartung einer Antwort aus dem Unterrichtsministerium. Dieses nahm die Entwicklungen im Diekircher Lyzeum zu diesem Zeitpunkt durchaus ernst: Man werde dem Einspruch per E-Mail die nötige Aufmerksamkeit zukommen lassen, teilte eine Sprecherin des Bildungsministeriums bereits am Montag mit.
An der eigentlichen Prozedur hatten die Behörden nichts auszusetzen: Der „Conseil de classe“ kann zwar eine Empfehlung abgeben, doch über die Strafe entscheidet letztendlich der Direktor. „Was in diesem Fall auch passiert ist“, so die Sprecherin des Ministeriums. Auch sei laut Gesetz nicht vorgesehen, dass der oder die Betroffene von einem unabhängigen, unparteilichen Gremium gehört wird. „In diesem bestimmten Fall wäre eine solche Vorgehensweise aber durchaus anzuraten gewesen“, schlussfolgert die Sprecherin.
Tatsächlich wurden beide Parteien am Dienstagmorgen ins Bildungsministerium bestellt, um „im Dialog eine Lösung zu finden und wieder Ruhe in den Schulbetrieb zu bringen“, so die Sprecherin. In diesem Gespräch habe man sich „auf eine Regelung der Situation verständigen können, die für beide Parteien akzeptabel ist“. Mit anderen Worten: Die Suspendierung wurde für null und nichtig erklärt, die Schülerin darf ab sofort wieder am Unterricht teilnehmen. Die Strafe wird indessen aus sämtlichen Akten gestrichen.
Eine große Belastung
„Ich begrüße diese Entscheidung, vor allem weil ich wieder zum Unterricht darf“, betont die Betroffene gegenüber dem Tageblatt. Das ganze Hin und Her habe sie in den letzten Tagen wirklich belastet. „Es wurde mir zum Schluss einfach zu viel. Deshalb habe ich übers Wochenende meine Sachen gepackt und bin zu Bekannten ins Ausland gefahren. Letztendlich wollte ich die Geschichte nur noch hinter mich bringen“, so die 18-Jährige.
„Natürlich freut es mich, dass meine Tochter wieder zum Unterricht darf“, betont auch der Vater. Freunde werden er und LCD-Direktor Marcel Kramer aber keine mehr. Zu sehr habe seine Tochter unter dem ganzen Trubel gelitten, auch wenn sie von den Mitschülern viel Zuspruch erhalten hat. Doch habe sie an den zwei Tagen, an denen sie nicht zum Unterricht durfte, wichtige Kurse verpasst. „Sollten die letzten Tage Spuren bei meiner Tochter hinterlassen, werde ich Marcel Kramer zur Verantwortung ziehen“, so der aufgebrachte Mann. „Sie war mit den Nerven am Ende. Für mich ist das nichts anderes als regelrechtes Mobbing.“
Das Unterrichtsministerium will indessen keine weitere Stellung zu den Parteien beziehen. „Uns ging es nur darum, beide Parteien an einen Tisch zu bekommen, um eine Lösung im Interesse der Schülerin, der Schuldirektion und des Schulklimas zu finden“, betont die Ministeriumssprecherin. „Dieses Ziel haben wir nun erreicht, indem eine weniger strenge Strafe in beidseitigem Verständnis angenommen werden konnte.“
Als am Diekircher Lyzeum Mitte September der neue Dresscode präsentiert wurde, blieben Diskussionen nicht aus. Zu sehr konzentriere sich der Text auf Schülerinnen, fanden viele Beobachter. Junge Frauen würden damit sexualisiert. Für zusätzlichen Sprengstoff sorgten die öffentlichen Aussagen von LCD-Direktor Marcel Kramer, wonach junge Mädchen solche Regeln bräuchten, um sich der Wirkung ihres Kleidungsstils auf andere Menschen bewusst zu werden. Es seien immerhin die Männer, die sich von dieser Kleidung ablenken ließen, meinten hingegen die Kritiker. Diese Kritik versucht die Karikatur von Ben Kugener aufzugreifen, wenn auch überspitzt. Eine bestimmte Person sei damit aber nicht gemeint, so der junge Künstler. Vielmehr habe er nur einen pauschalen Lehrer darstellen wollen, „mit Charakteristiken, wie man sie auch aus anderen Zeichnungen kennt“.

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