Marc Baum„Finanzplatz, Kapitalbesitzer und ‚Großgrundbesitzer‘ müssen als erste die Krisenrechnung begleichen“

Marc Baum / „Finanzplatz, Kapitalbesitzer und ‚Großgrundbesitzer‘ müssen als erste die Krisenrechnung begleichen“
Der linke Abgeordnete Marc Baum (41) wünscht sich, dass die Regierung endlich ein paar Vorschläge und Varianten auf den Tisch legt, die einen Ausweg aus dem „Etat de crise“ aufzeigen Foto: Editpress/Alain Rischard

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Die Oppositionspartei „déi Lénk“ gilt als das soziale Gewissen des Parlaments. Ihre Einwände und Vorschläge werden häufig als begründet und berechtigt anerkannt, am Ende aber meist als nicht umsetzbar abgetan. Nach der Billigung des Krisenzustands durch das Parlament hat Premierminister Xavier Bettel am 21. März die „Union nationale“ beschworen und damit der parlamentarischen Opposition quasi ihre „Raison d’être“ genommen. Im Interview spricht der linke Abgeordnete Marc Baum (41) über die Risiken und Chancen der Corona-Krise für die Gesellschaft.

Tageblatt: Seit einem Monat herrscht in Luxemburg offenbar eine „Union nationale“. Mit dem Ausrufen des Ausnahme- oder Krisezustands wurde die Grenze zwischen politischer Mehrheit und Opposition quasi aufgehoben. Sind die Oppositionsparteien damit überflüssig geworden?

Marc Baum: „déi Lénk“ war nie begeistert von dem Ausdruck „Union nationale“. In den parlamentarischen Debatten der vergangenen Wochen haben wir versucht, uns von verschiedenen Positionen der Regierung zu distanzieren und bestimmte Maßnahmen, mit denen wir nicht einverstanden sind, zu kommentieren. Dazu gehört die Ausweitung der Arbeitszeit auf 60 Stunden die Woche und zwölf Stunden am Tag. Manche Maßnahmen sind unverhältnismäßig und können einen ersten Schritt zur Aufweichung des Arbeitsrechts und der Arbeitszeitregelung darstellen. Damit sind wir auf keinen Fall einverstanden. Zurzeit beobachten wir ein komplettes Paradox in der Gesellschaft. Auf der einen Seite haben wir Menschen, die arbeiten müssen, sogar mehr als üblich. Auf der anderen Seite stehen viele Menschen, die nicht arbeiten dürfen, obwohl sie es gerne möchten. Das zeigt den widernatürlichen und widerdemokratischen Zustand, in dem wir uns gerade befinden.

2017 hat „déi Lénk“ gegen die Änderung des Verfassungsparagrafen 32.4 zur Erweiterung des Ausnahmezustands gestimmt. Der Verlängerung des Krisenzustands am vergangenen 21. März hat sie aber zugestimmt. Wie passt das zusammen?

Die Verfassungsänderung von 2017 hatte zum Ziel, den Anwendungsbereich des „Etat de crise“ von internationalen auf nationale Krisen auszudehnen. Hintergrund waren die Terrorattentate vom November 2015 in Paris. „déi Lénk“ war und ist noch immer der Meinung, dass das äußerst heikle Instrument des Ausnahmezustands nicht als Reaktion auf terroristische Attacken anwendbar ist. Die Corona-Pandemie kommt dem Notstand hingegen schon sehr viel näher. Es mussten schnelle Entscheidungen getroffen werden, die auf dem normalen legislativen Weg zu viel Zeit gebraucht hätten.

Das heißt, die Entscheidung der Regierung, den Krisenzustand auszurufen, schätzen Sie auch im Nachhinein noch als richtig ein?

Ja, ich glaube schon. Die Krise hat Ausmaße angenommen, die vor einem Monat noch nicht absehbar waren. Was wäre passiert, wenn Frankreich seine Grenzen komplett geschlossen hätte? Dann wäre das gesamte Krankenhauswesen in Luxemburg zusammengebrochen. In solchen Notsituationen hat die Regierung eine gewisse Haltung gebraucht, um handeln zu können. Die Öffnung der Grenzen hat sie sich ja auch zum Teil diplomatisch erkauft.

Was meinen Sie damit?

Dass Luxemburg in der Frage der Corona-Bonds für einmal nicht auf der Seite der größten „Krätzbéck“ steht.

Auch als Abgeordneter hat man das Gefühl, dass man den Ministern die Informationen aus der Nase ziehen muss

Marc Baum, Abgeordneter von „déi Lénk“

„Union nationale“ würde eigentlich bedeuten, dass die Oppositionsparteien in die Entscheidungen der Regierung mit einbezogen werden. Inwiefern ist das der Fall?

Mit einbezogen werden wir nicht, aber wir werden informiert. Bei manchen Ministern merkt man, dass sie auf eventuelle Probleme, die durch schlechte Formulierungen in großherzoglichen Reglements entstehen könnten, reagieren. Es stellt sich aber die Frage, ob die Regierung in einer so außergewöhnlichen Situation die politische Opposition nicht noch viel stärker in den Entscheidungsprozess hätte einbinden müssen. Gleiches gilt für die Kommunikation zwischen Regierung und Parlament, die zwar mit Sicherheit besser ist als die Kommunikation der Regierung mit der Presse, aber auch als Abgeordneter hat man das Gefühl, dass man den Ministern die Informationen aus der Nase ziehen muss. Vage bleibt vor allem noch, von wem die Regierung sich beraten lässt und auf welchen Grundlagen sie ihre Entscheidungen trifft. Um den Entscheidungsprozess wenigstens etwas transparenter zu gestalten, hat die Regierung jetzt eine Ad-hoc-Gruppe einberufen, in der die treibenden Kräfte der Gesellschaft ein Wörtchen mitzureden haben, damit sie sich nicht allein auf McKinsey verlassen muss.

Zurzeit ist noch unklar, wie lange der „Etat de crise“ aufrechterhalten werden muss. Premierminister Xavier Bettel hat vergangene Woche von einem Pandemiegesetz oder einem Vollmachtsgesetz gesprochen, das den Krisenzustand ablösen könnte. Wurde schon mit der Ausarbeitung eines legislativen Exits begonnen?

Ich habe auch nur diese Ankündigung des Premierministers gehört. Vor einer Woche hat er die Fraktionsvorsitzenden informiert, dass er die verschiedenen Optionen gerne mit dem Parlament diskutieren würde. Der gesetzliche Notstand läuft am 24. Juni aus. Wenn bestimmte Maßnahmen verlängert werden müssen, kann das über ein Vollmachtsgesetz geschehen, wie es bis 2004 gehandhabt wurde. Es kann aber auch über ein Pandemiegesetz geregelt werden, das sicherlich eine bessere Grundlage wäre als das Gesetz über ansteckende Krankheiten von 1885, auf das sich die Regierung am Anfang der Krise berufen hat. Ein Pandemiegesetz könnte aber auch Probleme mit sich bringen. Deshalb würde ich mir wünschen, dass die Regierung endlich mal ein paar Vorschläge und Varianten auf den Tisch legt, über die man diskutieren kann.

Nach aktuellem Stand der Dinge konnten die gesundheitlichen Schäden der Corona-Pandemie in Luxemburg begrenzt werden. Die Zahl der Infizierten wurde innerhalb weniger Wochen eingedämmt, die Zahl der Toten ist vergleichsweise gering. Hat die Regierung demnach die richtigen Entscheidungen getroffen?

Ich glaube, dass die sanitären Maßnahmen und auch das Prinzip der Ausgangssperre am Anfang richtig waren. Es ist bewundernswert, wie Luxemburg innerhalb kürzester Zeit sein Krankenhaussystem umstrukturiert hat. Das hätte man vor einigen Wochen noch nicht für möglich gehalten. Gleichzeitig hat die Regierung wirtschaftliche und soziale Maßnahmen veranlasst, um die Gesellschaft am Leben zu halten. Die große politische Frage lautet aber jetzt, wie wir wieder aus der Krise herauskommen.

Wir müssen uns fragen, ob jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt ist, um unsere Wirtschaft so umzustrukturieren, dass sie den großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie dem Klimawandel und den wachsenden sozialen Ungleichheiten gerecht werden kann

Marc Baum, Abgeordneter von „déi Lénk“

Am vergangenen Samstag hat das Parlament ein Gesetz über Staatsgarantien für die Wirtschaft verabschiedet. „déi Lénk“ hat sich als einzige Partei enthalten. Wieso?

Das Gesetz über die Staatsgarantien lässt uns hellhörig werden. Es ist ein klassisches liberales Gesetz, genau wie die Gesetze, die 2009 und 2012 im Rahmen der Finanzkrise verabschiedet wurden. Es enthält nur wenige Auflagen für die Banken und fast gar keine Bedingungen für die Unternehmen. Andere Länder haben solche Auflagen. Österreich hat zum Beispiel seine Staatsgarantien an die Bedingung gekoppelt, dass die Unternehmen niemanden entlassen dürfen, die Zinssätze nicht höher als ein Prozent sein dürfen und die ausgeschütteten Dividenden die der Vorjahre nicht übersteigen dürfen. Solche Bedingungen sind in Luxemburg nicht vorgesehen. Hier sichert der Staat das Geschäft der Banken und unterstützt sie noch zusätzlich in ihrem Kerngeschäft, das ja eigentlich darin besteht, Unternehmen Liquiditäten zur Verfügung zu stellen. 2009 hat auf diese Weise die Austeritätspolitik begonnen, denn irgendjemand muss die Rechnung ja am Ende begleichen.

Die Regierung stellt fast 9 Milliarden Euro an direkten und indirekten Hilfen für die Wirtschaft zur Verfügung. Kann der Staat sich das leisten?

Finanzminister Pierre Gramegna hat am Samstag erklärt, Luxemburg verfüge über eine Milliarde an Liquiditäten. Obwohl inzwischen nur noch die Haushalte Steuern zahlen – die Betriebsbesteuerung ist ausgesetzt, die Mehrwertsteuer und die Akzisen sind eingebrochen –, reiche dies aus, um die Löhne der Staatsbeamten und die Renten noch für einen Monat oder zwei Monate zu finanzieren. Deshalb ist im Garantiegesetz eine Anleihe von 3 Milliarden Euro vorgesehen, die die Regierung wohl bald aufnehmen muss. Ich glaube, dass viele Ausgaben noch gar nicht fakturiert sind, wie zum Beispiel das medizinische Material, das Luxemburg zu Wucherpreisen in der ganzen Welt eingekauft hat. Ich gehe davon aus, dass die Staatsschuld 2020 wesentlich höher als 3 Milliarden Euro sein wird. Das ist ja auch in Ordnung, Luxemburg kann sich das wahrscheinlich besser als jedes andere Land leisten.

Trotzdem, irgendjemand muss dafür bezahlen.

Es gibt zwei Varianten. Laut der klassischen liberalen Variante muss die Allgemeinheit bezahlen, was die Lohnabhängigen und die Haushalte mit den niedrigsten Einkommen am höchsten belastet. Eine andere Möglichkeit wäre eine wirklich gerechte Steuerreform, bei der vor allem die bezahlen, die sich in den letzten zehn Jahren eine goldene Nase verdient haben. Der Finanzplatz, die Fondsindustrie, die Kapitalbesitzer und die „Großgrundbesitzer“ müssen als Erste den Geldbeutel öffnen, wenn es darum geht, die Schäden der Krise zu begleichen.

Ziel der Wirtschaftshilfen ist es, zum Vorkrisenzustand zurückzukehren. Ist das realistisch? Oder anders gefragt, ist das überhaupt erstrebenswert?

Wir müssen uns fragen, ob jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt ist, um unsere Wirtschaft so umzustrukturieren, dass sie den großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts wie dem Klimawandel und den wachsenden sozialen Ungleichheiten gerecht werden kann. Gleichzeitig könnten wir unsere Abhängigkeit vom Finanzplatz verringern. In ganz Europa wird zurzeit eine Relokalisierung der industriellen Substanz, insbesondere der Pharmaindustrie, gefordert. Wir müssen unsere Freihandelspolitik umstellen, die ganzen Produktions- und Lieferketten müssen überdacht werden.

Wie groß ist das Risiko, dass solche Forderungen wieder verschwinden, sobald die Notwendigkeit nicht mehr gegeben ist?

Das Garantiegesetz vom vergangenen Samstag war schon ein Schritt in die falsche Richtung. Die Gefahr, dass alles so bleibt wie bisher, besteht durchaus. Doch es ist Aufgabe der Opposition, dem Einhalt zu gebieten. Und mit Opposition meine ich nicht nur die parlamentarische Opposition, sondern auch die Opposition in der Gesellschaft. Dazu zählen die Gewerkschaften, die Zivilgesellschaft, die Sozialverbände und die Umweltorganisationen. Wenn diese Akteure sich zusammentun und eigene Vorschläge entwickeln, führt kein Weg aus der Krise an ihnen vorbei.

Die Gefahr, dass alles so bleibt wie bisher, besteht durchaus. Doch es ist Aufgabe der Opposition, dem Einhalt zu gebieten. Und mit Opposition meine ich nicht nur die parlamentarische Opposition, sondern auch die Opposition in der Gesellschaft.

Marc Baum, Abgeordneter von „déi Lénk“

Die Corona-Krise wird die Diskussion über die Zukunft des Luxemburger Gesundheitssystems stark beeinflussen. Welche langfristigen Lehren muss Gesundheitsministerin Paulette Lenert aus der Pandemie ziehen?

Eine der großen Lehren ist, dass sogar die Ärzte, die noch vor ein paar Monaten lautstark die schrittweise Liberalisierung und Privatisierung des Gesundheitswesens gefordert haben, jetzt froh darüber sind, dass sie zur „Réserve sanitaire“ gehören und auf einen gesicherten Monatslohn von 8.000 Euro für 16 Stunden Arbeit zurückgreifen können. Sogar die Liberalen freuen sich, dass diese Verstaatlichung, die mit der Krise einhergeht, so gut funktioniert. Nach der Krise müssen wir prüfen, wie leistungsfähig das öffentliche Gesundheitssystem ist, und eventuell bereits vollzogene Liberalisierungen wieder rückgängig machen oder anders umrahmen. Wir haben in Luxemburg ein starkes öffentliches Gesundheitssystem, weil es, im Gegensatz zu anderen Ländern, zu 90 bis 95% über die Sozialversicherung finanziert wird. Man wird auch das Statut der einzelnen Krankenhäuser überprüfen müssen, die ja fast alle eine unterschiedliche Rechtsform haben. Nicht zuletzt müssen wir den Sektor der Alten- und Krankenpflege von der Profitlogik befreien.

Immer wieder wird die Solidarität der Bevölkerung in der Krise positiv hervorgehoben, selbst wenn es sich in den meisten Fällen wohl eher um Nachbarschaftshilfe als um Solidarität handelt. Wie könnte diese Hilfsbereitschaft auch über die Krise hinaus gerettet werden?

Vieles hängt von den Spuren ab, die das sogenannte „Social distancing“ in der Gesellschaft hinterlassen wird. Die meisten Varianten sehen vor, dass die soziale Distanzierung neun bis 18 Monate andauern wird. Ich befürchte, dass nach so einer langen Zeit nicht mehr viel von der Solidarität übrig bleiben wird. Vielleicht muss sie danach neu erfunden werden. Die eigentliche Solidarität, wie sie in der Arbeiterbewegung verstanden wird, definiert sich stark über das Versammlungsrecht. Diese Form der Solidarität ist zurzeit komplett verschwunden. Wenn das Versammlungsverbot noch lange anhält, könnte es für die Gesellschaft gefährlich werden.

mouzel
23. April 2020 - 14.00

Et gëtt vill Bonzen hei am Land, d'Steierverwaltung kënnt se, sie brauch nëmmen den Ok vun der Régierung mam Accord vun der Chamber, da gesinn mer wou d'Vertrieder vun de klënge Leit sinn. Här Baum setzt Iech duerch an der Chamber.

Alain
22. April 2020 - 21.51

Grossgrundbesitzer in Luxemburg? Das sind u.a. Baulöwen wie Herr Becca, und andere Unternehmer, Investmenfonds, Banken aber auch die Arcelor-Mittal, die katholische Kirche, usw. Immobilienbesitz ist in unserem Land die sicherste Kapitalanlage und man kann dabei immer nur viel oder sehr viel Geld verdienen. Die Folgen davon tragen jene die hier Mieten zahlen müssen oder sich ihr Leben lang hoch verschulden müssen um eine Wohnung zu besitzen.

Antoine
22. April 2020 - 17.05

Den Här Baum ass en gudde Jong.

jean-pierre goelff
22. April 2020 - 16.31

Daat üblicht Gerooterts vun déen Lenken!Changez de disque,s.v.p.!

Luc
22. April 2020 - 16.14

Kléngt wéi een, den ausser 'Das Kapital' nach ni en anert Bucht gelies huet. Wie sollen dann déi 'Grossgrundbesitzer' sinn? Grand-Ducs? d'Baueren? De Staat? Et ass jo schonn eng Grondsteierreform geplangt, dem Gauleiter seng déi mer lo hunn huet e Baart.

Gronnar
22. April 2020 - 13.01

Großgrundbesitzer? Die Bauern?