Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt: „Wer zu viel fühlt, der denkt zu wenig“

Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt: „Wer zu viel fühlt, der denkt zu wenig“

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Der Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt sorgt zurzeit mit seinem erfolgreichen YouTube-Channel „Die Filmanalyse“ für ein Revival der ideologiekritischen Filmbesprechung. Daneben schreibt er unter anderem für die Rhein-Zeitung, die Neue Züricher Zeitung und den Freitag. Das Tageblatt hat sich mit ihm unterhalten.

Von Tom Haas

Tageblatt: Herr Schmitt, Sie beenden jede Ihrer Analysen auf YouTube mit dem Satz: „Wir schauen, aber wir sehen nicht.“ Was meinen Sie damit?

Wolfgang M. Schmitt: Das ist ursprünglich ein Zitat von Tarkowski (sowjetischer Filmemacher; Anm. d. R.) und gemeint ist damit, dass wir Filme in der Regel konsumieren und der Erzählung folgen können. Aber Filme haben natürlich einen Subtext, Filme suggerieren verdeckt eine ideologische Botschaft. Das ist nicht unbedingt von den Machern intendiert, die Filme selbst tun es. Durch diesen Satz versuche ich klarzumachen, dass wir beim Betrachten von Filmen wegkommen müssen vom bloßen Schauen hin zu einem Sehen, also an den Punkt, an dem wir die eigentlichen, ideologischen Inhalte erkennen.

Sie beschreiben den Film als eine Kunst der Verführung. Wieso ist es wichtig, sich nicht verführen zu lassen? Was bringt mir der Film abseits der erzählten Geschichte?

Man kann sich dem Film natürlich hingeben. Das ist die Magie, die wir am Kino schätzen. Aber zugleich sind wir dadurch sehr verletzlich, weil wir uns gewisse Botschaften unterjubeln lassen, die durchaus problematisch sein können. Die Marvel-Filme suggerieren beispielsweise: „Da sind Superhelden, die retten die Welt und wollen nur unser Bestes.“

Die Aufgabe des Filmkritikers ist es dann, zu fragen: „Ist das wirklich das Beste? Oder wird da Tür und Tor geöffnet für einen neuen Autoritarismus, weil die Superhelden nicht nur das Volk, sondern auch die Politik ersetzen?“ Das sind die spannenden Fragen, die über die konkrete Erzählung hinausreichen.

Der Film wird als Teil der Gesellschaft verstanden und nicht nur als Kunstwerk. Dazu bieten sich Unterhaltungsfilme im besonderen Maße an, weil Unterhaltungsfilme darauf ausgelegt sind, ein möglichst großes Publikum zu erreichen und in der Regel nicht nur von einer Person entworfen werden. Es gibt ein Team an Drehbuchschreibern, den Regisseur und Produzenten – und kaum ein Regisseur hat heute noch das Recht auf den Final Cut. Daraus ergibt sich, dass die Filme für Erscheinungen und Ideen des Zeitgeists besonders anfällig sind. Deswegen sollten wir Filme nicht als reine Unterhaltungsprodukte betrachten.

Die Aufgabe des Kritikers ist es dann, die verdeckten Mechanismen der Fiktion sichtbar zu machen?

Genau. Siegfried Kracauer sagte, der Filmkritiker von Rang ist eigentlich Gesellschaftskritiker. Und als solchen verstehe ich mich auch. Ich möchte weniger darüber sprechen, ob ein Film gut oder schlecht ist. Das ist keine irrelevante Frage, aber die interessantere Frage ist doch: Was ist die Aussage des Films?

Ist „Titanic“ wirklich ein Liebesfilm oder ist es ein Klassenkampfdrama? Ist der neue Marvel einfach nur eine Comic-Verfilmung, oder wird die Produktion so angelegt, dass sie überall funktionieren kann? Das ist beispielsweise bei „Avengers: Endgame“ so, der Film ist nicht nur im Westen extrem erfolgreich, sondern auch in Brasilien und China. Was also ist an diesem Film, dass auch Zuschauer, die wenig Interesse an dem identitätspolitischen Diversity-Programm dieser Filme haben, ihn sehen wollen?

Es gibt bei „Avengers“ den großen Bösewicht Thanos – er möchte einen Großteil der Bevölkerung vernichten und verkörpert das absolute Böse. Aber man muss sich vergegenwärtigen, dass das unsere Rezeption des Films ist. Mit welchem Auge blickt jetzt beispielsweise ein Rechter auf einen solchen Film? Ist Thanos für ihn nicht das Feindbild, das er sich längst konstruiert hat, etwa eine Art George Soros, der an der „großen Umvolkung“ beteiligt ist? Und plötzlich merken wir, dass der Film auch in diese Richtung rezipierbar ist.

Die Erkenntnis hat man aus der Zeit des Nationalsozialismus. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs waren Hollywoodfilme in Deutschland extrem erfolgreich. Hitler und Goebbels liebten die Produktionen. Während Hitler aber beispielsweise ein klares Bild von Propagandafilmen hatte – Propagandafilme müssen halt Propaganda betreiben –, hat Goebbels sehr klug erkannt, dass Filme, die nicht so stark als Propaganda markiert sind, sondern als Unterhaltung daherkommen, propagandistisch viel wirksamer sein können. Filme können extrem politisch sein, gerade dort, wo sie als Unterhaltung daherkommen.

Bedingt die Kritik den Erfolg? Gibt es Gründe, die dafür sprechen könnten, einen Film in der Kritik nicht zu thematisieren?

Das Ignorieren eines Films ist eine Möglichkeit, aber ich habe nicht die Hoffnung, dass ich durch eine Filmkritik dafür sorgen kann, dass ein Film nicht erfolgreich wird. Das sind die guten alten Feuilletonzeiten, das ist vorbei. Hollywoodfilme spielen zum Teil Milliarden ein, mein Zutun bewirkt da wenig. Mein Anliegen ist es, dass man diese Filme durchaus schätzen kann, auch wenn es keine hohe Kunst ist.

Die Aufgabe des Kritikers ist es, darauf hinzuweisen: „Du kannst es genießen, aber dann bitte so reflektiert, dass du dich nicht ideologisch davon manipulieren lässt.“ Der Kritiker muss Distanz schaffen und auch selbst eine distanzierte Haltung aufbauen – deshalb bevorzuge ich im Kino auch die Plätze am Rand, um nicht völlig von der Immersion eingelullt zu werden. Aber auch durch meine Texte und meine Videos versuche ich zu erreichen, dass die Menschen gerade zu dem, was sie lieben, in Distanz treten.

Deshalb liebe ich es auch, Kindheitserinnerungen zu zerstören, wenn ich einen Film wie „König der Löwen“ auseinandernehme. Den Film hat man als Kind gern gesehen und fand ihn toll, und viele bleiben bei diesem kindlichen Blick – als Erwachsener sollte man allerdings nicht unkritisch herunterbeten, dass alles seine Ordnung hat und es einen „circle of life“ gibt, in dem wir gut aufgehoben sind. Das Gegenteil ist der Fall.

Eines Ihrer meistgeteilten Videos war der Verriss von Til Schweigers letztem Film. Welche Funktion erfüllt ein Verriss?

Es ist Spaß. Es ist aber auch die Rache des kleinen Mannes, also des Kritikers, dass er es ertragen musste, den Film anzusehen. Man wünscht sich ja eigentlich als Filmkritiker, nur gute Filme zu sehen und positive Kritiken zu schreiben. Es ist auch nicht so, dass Verrisse einfach sind – ein dezidierter Verriss ist genauso schwer zu schreiben wie eine lobende Kritik.

Im Fall von Til Schweiger ist es nochmal etwas Besonderes, weil er mit der Filmkritik in Deutschland seit eh und je auf Kriegsfuß steht, er aber zugleich immer die Anerkennung sucht. Er ist nicht in der Lage, zu sagen: „Der Erfolg gibt mir recht und ich mache Filme nicht für die Kritiker.“ Er möchte ein Massenpublikum haben und er möchte zugleich aber die höheren Weihen des Feuilletons, macht das aber mit Filmen, die diese Weihen niemals erhalten können. Und das ist seine persönliche Tragödie, die sich darin äußert, dass er seine Verrisse auf den sozialen Medien teilt und hämisch kommentiert.

Das hat natürlich dafür gesorgt, dass meine Kritik häufig angeklickt wurde und meine Popularität gestiegen ist – ich hatte danach sehr viele neue Abonnenten, davon viele, die gesagt haben: „Endlich sagt’s mal einer.“ (lacht) Der Kritiker hat nicht die Aufgabe, den Filmemacher zu belehren – das ist zwecklos und vermessen. Oft würde auch nichts dabei herauskommen, wenn Kritiker Filmemacher beraten, denn es ist ein sehr unterschiedliches Terrain. Als Kritiker ist man der Anwalt des Publikums.

Würden Sie sich einen Biopic von Til Schweiger ansehen?

Natürlich würde ich mir das ansehen, ich wäre auch gespannt, wer das spielt – vermutlich er selbst in allen Lebensjahren, so eitel ist er ja immerhin. Ich habe ja auch eine gewisse Freude am Trash. Allerdings finde ich Til Schweiger gar nicht so interessant. Wofür ich ein großes Faible habe, sind romantische Hollywood-Komödien und gerade da muss ich besonders aufpassen, dass ich nicht in den Bann dieser Filme gezogen werde.

Sie sind oft sehr gut produziert und sehr gut gespielt und wecken ein Gefühl in einem, das man kennt oder gerne hätte. Und da muss ich mir immer wieder in Erinnerung rufen: „Stopp, du bist ja auch Filmkritiker.“ Aber die theoretische Herangehensweise erlaubt es einem dann auch, sich mit Dingen zu befassen, die eigentlich ein wenig ekelhaft sind.

Manchmal komme ich mir vor wie ein regelmäßiger Bordellbesucher, der behauptet, das nur wegen einer groß angelegten, soziologischen Studie zu machen. (grinst) Es gibt eine perverse Lust an schlechten Filmen in mir, und diese kann ich vor mir selbst legitimieren, indem ich sage: „Ich muss das ja theoretisch analysieren.“ Aber auf eine geheime Weise kann ich es dazu noch genießen.

Filme spiegeln ja auch immer gesellschaftliche Diskurse wider – auf unterschiedliche Weise, durch Wiedergabe oder Widerspruch, Ironisierung oder Überzeichnung. Wie befreit man sich als Kritiker von der eigenen Befangenheit, weil man ja als Mensch in diesen Diskursen auch eine Position vertritt?

Die Distanz muss man immer wieder mühsam herstellen. Die Kraft des Kinos ist so stark, dass natürlich auch der Kritiker den Verführungen erlegen ist. Und man steht ja nicht außerhalb der Gesellschaft, deswegen muss man sich die eigene Position stets gewahr werden und muss von dort aus versuchen, so etwas wie Wahrheit zu artikulieren. Es gibt keine objektive Perspektive von ganz oben, keinen göttlichen Blick auf die Kunst.

Aber wie entwickelt man eine solche Distanz? Viele Leute, die Kritiken lesen oder sehen, finden es meist schrecklich überzogen, dass man einen Film überhaupt aus diesem Winkel betrachtet. Wie kann man als Nicht-Kritiker überhaupt diese Position gewinnen?

Nicht jeder wird ein brillanter Kritiker werden, aber jeder kann versuchen, von den inneren Befindlichkeiten abzusehen und sich zu fragen, ob man nicht auch einen theoretischen, abstrakteren Blick auf den Film einnehmen kann. Das geht zurzeit sehr stark verloren, im Übrigen auch seitens der professionellen Kritik. Eine der liebsten Vokabeln überhaupt in Filmkritiken ist das Wort „emotional“. Gefühle werden als etwas unglaublich Positives beschrieben.

Dabei sind Gefühle erst einmal neutral. Man kann dieses oder jenes Gefühl haben, aber das heißt gar nichts. Man muss versuchen, sich Kunst mit einer gewissen Kälte anzusehen und man wird feststellen, dass gute Filme nicht schlechter dadurch werden, sondern dass man von der Größe eines Kunstwerks plötzlich hingerissen ist, wenn man nicht nur die eigene Betroffenheit darin gespiegelt sieht. Identifikation ist nicht alles.

Gerade dort, wo eine gewisse Fremdheit Einzug hält, wenn ich also etwas betrachte, was nichts mit mir zu tun hat, dann erkenne ich erst die Größe eines Werks. Das andere bleibt immer eine sehr geschmäcklerische Sache – der eine isst gerne das, der andere dies. Aber bei der Begegnung mit Kunst geht es immer um mehr. Man selbst ist dem Kunstwerk ja völlig egal.

Es ist ein bisschen wie der Monolith bei Stanley Kubricks „2001“: Er steht da, er fragt nicht, er gibt keine Antwort, und wenn du nicht da bist, steht er da immer noch. Das ist ein Bild für die Kunst an sich. Wenn man diese radikale Erfahrung aushält, also den Umstand, dass man eigentlich nicht gebraucht wird, dann kommt man weg von dem identifikatorischen Sehen hin zu einem analytischen Sehen. Allerdings denke ich, dass wir einerseits durch die sozialen Medien, aber auch durch das geniale Marketing seitens Hollywood immer stärker zum Fühlen erzogen werden.

Und man kann schon sagen: Wer zu viel fühlt, der denkt zu wenig. Das ist ein großes Problem der deutschsprachigen Filmkritik: Es wird unglaublich viel gefühlt und die Leute sind laufend ergriffen von dem, was sie sehen, aber sie durchschauen gar nicht mehr, worauf sie da mitunter reinfallen. Es wäre angebrachter, sich die Gefühle fürs Privatleben aufzusparen, man braucht sie nicht unbedingt im Film. Zugleich ist das natürlich auch Ausdruck unseres modernen Kapitalismus.

Mit dem Kino werden Orte geschaffen, die andere Welten sein sollen, wo man auf Knopfdruck fühlen darf, Emotionen rauslassen darf. Es ähnelt diesen albernen Management-Seminaren: „Gehen Sie in den Wald und schreien Sie, da sind Sie ganz bei sich.“ Das ist auch ein Versprechen des Kinos. Es schafft eine Art Wellness-Angebot, um die Realität draußen auszublenden, eine zweistündige Therapiesitzung, nach der man wieder hinausgeht – und alles geht weiter wie davor.

Ich wünsche mir sowohl von einem Film wie auch von einer Filmkritik, dass es danach anders wird. Natürlich kommt mit einem Film nicht gleich eine Revolution, aber vielleicht ist im Anschluss ein anderer Blick auf die Wirklichkeit möglich. Das Vorhaben, den Film und die Wirklichkeit säuberlich getrennt zu betrachten, ist in meinen Augen fatal.

Inwiefern beeinflusst Sie die Arbeit anderer zeitgenössischer Kritiker? Ist die Rezeption des Films ausschlaggebend für Ihre Rezension, weil Sie sich auch gegen andere Kritiker positionieren oder sich im Einklang mit ihnen bewegen?

Ich pflege keinen großen Austausch mit Kollegen. Nach Pressevorführungen redet man oft auch gar nicht miteinander, da man ja nicht will, dass andere die eigenen Gedanken mitbekommen. Aber natürlich lese ich andere Kritiken – manchmal bevor ich die eigene schreibe, manchmal danach. Tatsächlich beeinflussen sie mich nicht so stark wie der Film selbst oder die Theorien, die ich auf das Gesehene anwende.

Ein großes Problem der deutschen Filmkritik besteht darin, dass die Kritiker ihre Rezensionen für ihre Kollegen schreiben – und nicht für den Leser. Dann werden irgendwelche Fachdiskurse und alte Feindschaften ausgetragen, statt den Leser zu adressieren. Das interessiert mich überhaupt nicht, deshalb unterhalte ich auch keinen großen Kontakt zur Kritikerszene. Ich bewege mich eher in einer Außenseiterposition, dort habe ich mich auch ganz behaglich eingerichtet.